Aus den Feuilletons

Warnung vor einem ängstlichen Europa

Der polnische Autor Andrzej Stasiuk
Angst und Macht seien siamesische Zwillinge, hat der polnische Autor Andrzej Stasiuk bei seiner Rede in Salzburg gesagt. © picture alliance / dpa / Andrzej Grygiel
Von Tobias Wenzel · 05.08.2016
Früher war Europa neugierig, heute hat es Angst vor dem Neuen: Das hat der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in Salzburg gesagt, und vor den Folgen gewarnt, wenn Angst und Macht sich paaren. Die Rede ist nun im "Spiegel" nachzulesen.
"Angst und Macht sind siamesische Zwillinge",
sagt Andrzej Stasiuk:
"Je mehr Angst wir haben, desto größere Feiglinge wählen wir."
Die Sätze des polnischen Schriftstellers stammen aus einer Rede, die er in Salzburg gehalten hat und die nun im neuen SPIEGEL nachzulesen ist. Es ist eine sehr politische Rede. Vielleicht für manch einen zu politisch, mutmaßt Stasiuk.
"Doch ich schreibe diese Worte unmittelbar nach Nizza und Istanbul, und in meinem Nacken spüre ich den heißen Atem der Wirklichkeit. Wir werden ihr nicht entrinnen. Wir können uns vor ihr nicht in die Lektüre flüchten, sowenig wie wir die Grenzen unserer immer ängstlicher werdenden Staaten dichtmachen können. Wie denn auch? Wollen wir zuerst das Gartentor zusperren? Und dann die Haustür? Danach schalten wir den Alarm ein, und sobald uns die Angst überwältigt, löschen wir das Licht und gehen in den Keller?"
Früher sei Europa neugierig gewesen, erinnert sich Andrzej Stasiuk, heute habe es Angst vor dem Neuen.
"Im Übrigen gründet der wahre Mut darauf, dass wir, auch wenn wir Angst haben, trotzdem tapfer voranschreiten, der Zukunft entgegen. Die Zukunft wird nämlich so oder so eintreffen."

Wenig Hoffnung für die Zukunft der Türkei

Für die Zukunft in der Türkei hat der Journalist Yavuz Baydar wenig Hoffnung.
"Wenn kein Wunder geschieht oder wir uns der Staatsmacht beugen, werden wir unseren Beruf nicht mehr ausüben können",
schreibt er in Folge 17 seines "türkischen Tagebuchs" für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Darin berichtet Baydar, wie der Jugendliche Tarik Korucu im Internet verzweifelt um Hilfe gebeten hat, und zitiert den Jungen mit den Worten:
"Mein Vater ist der Journalist Bülent Korucu. Meine Mutter wird seit sechs Tagen festgehalten, weil er untergetaucht ist. Ich flehe Euch an, brecht Euer Schweigen angesichts dieser illegalen Tat."
Die Polizei habe es der 45-jährigen Mutter nicht erlaubt, ihr einjähriges Kind mit ins Gefängnis zu nehmen. Ein Polizist habe einem ihrer Söhne gesagt:
"Wir werden die Schlinge immer enger ziehen, um deinen Vater aus seinem Versteck zu locken. Du bist als Nächstes dran."

Bangladeschs Fanatiker habe nichts zu befürchten

Von Polizisten, die durch ihr Tun den Unrechtsstaat stärken, zu Polizisten, die durch ihr Nichtstun in dieselbe Richtung arbeiten. Matthias Fienbork berichtet in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über Morde in Bangladesch: Mit Macheten töten Islamisten Blogger, die sich für ein säkulares Land und für Bürgerrechte starkmachen. Aber die Politiker des Landes würden feige schweigen, um keine Stimmen zu verlieren. 90 Prozent der Bevölkerung seien nämlich Muslime. Es gebe in Bangladesch fast 14.000 Koranschulen, die "Nährboden für Fundamentalisten und Terroristen" seien. Wie die Polizei auf solche Morde reagiert, erzählt der Blogger Baki Billah mit Blick auf einen Kollegen:
"Als Avijit Roy ermordet wurde, standen zwei Polizisten direkt neben ihm. Sie haben sich dem Angreifer nicht in den Weg gestellt, und sie haben ihn auch nicht verfolgt. Was haben die Fanatiker denn zu befürchten?"

Zeitmangel als Statussymbol

Bevor Sie, liebe Hörer, bei so viel deprimierenden Nachrichten der Versuchung erliegen, sich in Ihren dunklen Keller zurückzuziehen, schnell noch etwas Komisches. Na ja, vielleicht eher etwas Tragikomisches:
"Zeitmangel ist das Statussymbol unserer Zeit",
schreibt Tilman Baumgärtel in der TAZ. Aber insgeheim sehnten sich die Menschen doch nach mehr Zeit. Da komme der neue Trend "Speed Watching" gerade recht: Man sieht Fernsehserien, Filme und Videos einfach in doppelter Geschwindigkeit. Die Stimmhöhe werde dank moderner Videosoftware beibehalten, es gebe also keinen Helium-Effekt.
"Na gut, die Dialoge sind deutlich beschleunigt, da muss man halt besser aufpassen", schreibt Baumgärtel. "Aber der Zeitgewinn bei einer Stunde Videomaterial auf doppelter Geschwindigkeit ist fünfzig Prozent. Was man mit der neugewonnenen Lebenszeit alles anstellen kann! (Zum Beispiel noch mehr Fernsehserien gucken!)"
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