Aus den Feuilletons

Vom Atomkrieg zum weiblichen Orgasmus

Eine Pershing-Rakete wird gefechtsbereit gemacht. (Undatierte Aufnahme). Pershing-Raketen können mit atomaren Gefechtsköpfen ausgerüstet werden.
Eine Pershing-Rakete wird gefechtsbereit gemacht: Kommt der Kalte Krieg zurück? © dpa/Egon Steiner
Von Arno Orzessek  · 28.05.2016
Die Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen gaben sich in der vergangenen Woche düster: "Die Welt" orakelt von einem denkbaren Atomkrieg, "Die Zeit" prophezeit den möglichen Zusammenbruch der westlichen Welt und interviewt zudem den philosophischen Kopf der AfD, Marc Jongen.
In den Feuilletons begann die vergangene Woche mit Rückblicken – auf die Filmfestspiele in Cannes, das Berliner Theatertreffen, die Phil.Cologne.
Wenn Sie aber deshalb jetzt die Ohren spitzen, liebe Hörer – dann vergeblich: Auf die Rückblicke blicken wir in diesem Wochenrückblick nicht mehr zurück…
Und zwar, um ungesäumt zu den politischen Feuilletons zu kommen, die erneut unser stärkstes Interesse geweckt haben.
Die schwärzeste These, die einen starken Beiklang von Tatsachen-Behauptung hatte, vertrat die Tageszeitung DIE WELT:
"Atomkrieg wird wieder denkbar."
Laut Michael Stürmer wird die laufende Abrüstung schwerer Atomwaffen komplett konterkariert durch neue Arsenale kleiner, präziser A-Waffen – in China, in den USA, in Russland.
"Die russische Militärdoktrin [so Stürmer] enthält den Gedanken, der auch westlichen Strategen nicht gänzlich fremd ist, der Ersteinsatz von Nuklearwaffen könnte deeskalierend wirken: Was auch immer in der Theorie davon zu halten ist, die Hemmschwelle wird jedenfalls herabgesetzt in der Hoffnung auf frühes Einnicken des Gegners. Das ist unverantwortliches Spiel mit dem Feuer."
Wohl wahr!... pflichten wir bei. Zumal der WELT-Autor Stürmer ausführte, dass die entscheidende Sicherung des Kalten Krieges heute quasi herausgeflogen ist.
"Die Philosophie, gemeinsam zu überleben oder gemeinsam unterzugehen, hat an Geltung und Wirkungsmacht verloren."

Das westliche Modell könnte zerbrechen

Indessen verheißt die Zukunft auch ohne Atomkrieg entschieden Unfreundliches.
Unter dem Titel "Ein autoritäres Angebot" erwog Thomas Assheuer in der Wochenzeitung DIE ZEIT, wie es im planetarischen Maßstab politisch weitergehen könnte.
"Es waren beileibe nicht nur amerikanische Politiker und Intellektuelle, die glaubten, der Weg nach Westen sei die natürliche Himmelsrichtung der Weltgeschichte. Doch nirgendwo steht geschrieben, dass zu einer liberalen Ökonomie auch ein liberales politisches System gehört. Ebenso gut könnte das westliche Modell, die historische Verbindung aus liberaler Demokratie und gezähmtem Kapitalismus, auch wieder zerbrechen."
So Thomas Assheuer.
Der ZEIT-Autor stellte anheim, dass "eine Art postliberale Demokratie" vor uns liegen könnte, "in der allein der Markt noch frei wäre", der Staat jedoch nicht mehr als "ein neofeudaler Maßnahmenstaat".
Zur Erklärung des Erfolgs rechter Parteien zog Assheuer übrigens einen kenntnisreichen Gewährsmann heran.
"Kein anderer als Silvio Berlusconi hat das rechte Betriebsgeheimnis ausgeplaudert, wonach Irrationalität und Unberechenbarkeit eine Gesellschaft besser zusammenschweißen als die demokratische Vernunft."

Trump auf Berlusconis Spuren

Gerade wendet Donald Trump Berlusconis Irrationalitäts-These in den USA an – aber er kann wohl auch aus anderen Quellen schöpfen.
"Schwarz, groß, gold" hießt der Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, in dem Peter Richter den Baulöwen im Politiker ausleuchtete.
"Wenn man so will, hat es Trump mit der Skyline von Manhattan damals schon genauso gemacht wie jetzt mit dem politischen Gefüge des Landes: Er kam von außen, kaperte das System und pfiff auf die Proteste aus dem Establishment mit seinen angestammten Rechten. Selbst der damalige UN-Chef Kofi Annan polterte erfolglos, als Trump das denkmalgeschützte UNO-Hochaus am East River mit seinem schwarzen 'Trump World Tower' in den Schatten stellte."

Krastev beklagt "Tugendhochmut"

Auf den in Deutschland überwiegend schlechten Ruf Ost-Europas konzentrierte sich die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG im Gespräch mit dem Politologen Iwan Krastew und dem Historiker Oliver Jens Schmitt.
Der in Bulgarien geborene Krastev beklagte den deutschen "Tugendhochmut":
"Wenn es um Migranten geht, ist es mein Recht als Bürger, zu entscheiden, in welcher politischen Gemeinschaft ich leben und ob ich Neuankömmlinge aufnehmen möchte oder nicht. Es gibt nicht die moralische Pflicht, das ökonomische Wohlergehen anderer Menschen zu verbessern. […] Flüchtlinge dagegen, die vor einem Krieg davonlaufen, bürden mir eine moralische Verantwortung auf",
betonte Iwan Krastev in der FAZ.

Wie umgehen mit der AfD?

In aller Munde ist weiterhin die AfD… Und da dachte sich die ZEIT offenbar: Reichen wir ihrem philosophischen Kopf, Marc Jongen, doch gleich selbst das Wort.
"Deutschland ist heute zutiefst gespalten [diagnostizierte Jongen im Interview]. Wir laufen auf die gefährliche Situation zu, dass sich zwei Wirgefühle etablieren, die jeweils für sich beanspruchen, das Ganze des Volkes zu umfassen. Das eine entsteht um die Flüchtlingshilfe herum und bezieht daraus seinen Lebenssinn, das andere konstituiert sich gerade im Widerstand gegen die befürchtete Überfremdung. Eine verantwortungsvolle Staatsführung wäre daran zu erkennen, dass sie bemüht wäre, beide Identitäten zusammenzuführen."
Es wird ja viel über den richtigen Umgang mit der AfD diskutiert…
Weshalb wir festhalten: Die ZEIT ließ - zumindest im Interview mit Marc Jongen - größte Sachlichkeit walten.

Sloterdijk und der weibliche Orgasmus

Anders die TAGESZEITUNG. Rudolf Walther stellte Jongen und seinen philosophischen Lehrer Peter Sloterdijk als ähnlichen Geistes Kinder vor.
Schon die Überschrift spottete: "Zum Höheren und Trüberen."
Wobei man vielleicht erwähnen sollte, dass Sloterdijk mit dem fortschreitenden Alter auch Interessen neben Philosophie und Politik entwickelt.
"Sloterdijk erkundet den weiblichen Orgasmus", berichtete die WELT im Blick auf den "erotischen Roman 'Das Schelling Projekt'", der im August erscheint.

Die TAZ gibt sich keusch

Wer bis dahin nicht warten will, kann sich auf der US-Website OMGYes umtun, die sich ganz der Aufklärung über weibliche Lust verschrieben hat.
Die ansonsten Klartext, Frivolität und Zoten nicht abgeneigte TAZ führte ein erstaunlich keusches Interview mit den Entwicklern der Plattform.
Ihr etwas lendenlahmes Motto: "Es gibt noch so viel zu entdecken."
Was immer Sie mit diesem Sonntag anfangen, liebe Hörer – wir wünschen Ihnen, dass der Augenblick kommt, an dem Sie mit einer Überschrift des Berliner TAGESSPIEGEL sagen können:
"Es ist einfach gut so, wie es ist."
Mehr zum Thema