Aus den Feuilletons

Spekulationen für die Ära nach Castorf

Volksbühne in Berlin
Wer wird wann der neue Hausherr? Die Gerüchteküche brodelt. © imago / Seeliger
Von Gregor Sander · 25.03.2015
Der Volksbühnen-Chef Frank Castorf hat seinen Rücktritt angekündigt. Für seine Nachfolge sei der Belgier Chris Dercon im Gespräch, der derzeit die Tate Modern Galerie in London leitet, weiß der "Tagesspiegel" zu berichten.
In der letzten Woche kündigte Frank Castorf das Ende seiner Intendanz an der Berliner Volksbühne in einem Interview selbst an, ohne allerdings ein genaues Datum zu nennen. Im Berliner TAGESSPIEGEL vom Donnerstag vermutet Rüdiger Schaper dieses Ende nun im Jahr 2018. Um dann ein spektakuläres Gerücht zu verbreiten:
"Chris Dercon ist als Nachfolger von Frank Castorf im Gespräch. Der Belgier, 1958 geboren, leitet seit 2011 die Tate Modern in London mit der Turbinenhalle, die man als gewaltigen theatralischen Raum sehen kann. Olafur Eliasson und Tino Sehgal haben dort Projekte realisiert. Davor hat Dercon das Haus der Kunst in München in die Gegenwart geholt – mit Künstlern wie Christoph Schlingensief und Ai Weiwei."
Chris Dercon, Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, auf der New Yorker Kunstmesse "The Armory Show" vor einem Bild des Künstlers Ahmed Mater, das die Stadt Mekka zeigt.
"Mehr Event- und Biennalencharakter" fürs Theater? Chris Dercon, Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, auf einer New Yorker Kunstmesse.© picture alliance / dpa / Felix Hörhager
Schaper kann diese Nachricht nicht belegen, aber für ihn kündigt sich hier eine Neuordnung der Theaterlandschaft an. Denn:
"Chris Dercon ist kein Intendant, sondern ein Kurator. Aber so läuft es ohnehin in der Theaterszene. Festivals werden kuratiert, bei Stadt- und Staatstheatern lässt sich das ebenso beobachten. Weniger Ensemblepflege, mehr Event- und Biennalencharakter. Schneller Konsum. Formate statt Form."
Als gewöhnungsbedürftig bezeichnet es Schaper, wenn Chris Dercon denn wirklich Volksbühnenintendant wird, allerdings wäre der Unterschied zum Vorgänger für ihn gar nicht so groß:
"Was macht eigentlich eine Castorf-Inszenierung aus? Sein Theater mutierte zur Installation. Schauspiel lässt sich das nicht mehr nennen, eher Performance-Biotop. Die Akteure verausgaben sich in Textgebirgen, gefilmt von Videokameras. Das Bühnenbild gleicht einer bewohnten Skulptur."
Gratulationen für Pierre Boulez
Alle Feuilletons feiern den 90. Geburtstag des französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez. Reinhard Brembeck von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schreibt:
"Boulez ist neben Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen und Helmut Lachenmann nicht nur der kühnste und beste Komponist nach 1945, er übertrifft auch all seine Kollegen in der Breitenwirkung in die Gesellschaft hinein."
Die Wochenzeitung DIE ZEIT lässt Felix Schmidt gratulieren, der für den berühmtesten Satz des ehemaligen Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker mitverantwortlich war:
"Als ich im September 1967 den schlagzeilenträchtigen Imperativ 'Sprengt die Opernhäuser in die Luft' über das Spiegel-Gespräch mit dem Komponisten Pierre Boulez setzte, konnte ich nicht ahnen, dass ich damit die Zündschnur für eine weltumspannende Auseinandersetzung über die Existenzberechtigung der Institution Oper ausgelegt hatte. Was der Repräsentant einer neuen Komponistengeneration als 'teuerste, aber eleganteste Lösung' für die viel beredete Opernkrise empfahl und als Brandsatz gegen die verrotteten Zustände des musikalischen Establishments schleuderte, hat sich in das kulturelle Gedächtnis Europas eingeschrieben."
Trotzdem war Pierre Boulez als Dirigent dann für spektakuläre Opernaufführungen verantwortlich. Sein Ring des Nibelungen und auch der Parzival, so Schmidt in der ZEIT, gelten noch heute in Bayreuth als "Jahrhundertereignisse".
Kritik an der Berichterstattung über das Flugzeugunglück
Michael Hanfeld kritisiert in FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG die Fernsehberichterstattung zum Flugzeugunglück in Frankreich:
"Bei Sat1 bedrängt Ulrich Meyer in der 'Akte' seinen Experten, das 'heute journal' im ZDF hat fast kein anderes Thema und die ARD sendet einen 'Brennpunkt', der den geistigen Flächenbrand der Berichterstattung paradigmatisch exerziert. Es wird nicht über die Ursache des Unglücks spekuliert, sondern ausgelotet, wie es den Hinterbliebenen wohl geht."
Manchmal ist Schweigen wohl doch eine Lösung oder wie es Hanfeld ausdrückt:
"Niemand machte einen Punkt, alle redeten immer weiter. Sie legten Zeugnis ab von einer Ungeduld, die Ungewissheit nicht erträgt; einem Erklärzwang mit Absolutheitscharakter und einer geheuchelten Anteilnahme für die Hinterbliebenen, in deren Köpfe man doch unbedingt hineinkriechen muss: So sieht heute die Unfähigkeit zu trauern aus."
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