Aus den Feuilletons

Sex als Erlösung?

Lavinia Wilson
Lavinia Wilson ist die Hauptdarstellerin in Sönke Wortmanns Verfilmung des Romans "Schoßgebete" von Charlotte Roche © picture alliance/ dpa/ Henning Kaiser
Von Arno Orzessek · 18.09.2014
Sex ergießt sich aus den Feuilletons: "Berliner Zeitung", "Die Welt" und die "SZ" haben sich etwa "Schoßgebete" angeschaut. Leonard Cohens Sexleben, erotische Phantasien und der Sex anderer Leute bestimmt die Kulturressorts der überregionalen Tageszeitungen.
"Auf den toten Gräbern meiner Geschwister fick ich mich ins Leben zurück', ruft laut BERLINER ZEITUNG die koitusfreudige Protagonistin Elizabeth in Sönke Wortmanns "Schoßgebete" – der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Charlotte Roche.
Weil Roches reale Brüder bei einem Autounfall umkamen, und zwar, während sie zur Hochzeit ihrer Schwester fuhren, fühlt sich WELT-Autorin Katja Lüthge beim Betrachten des Films "immer wieder zum Voyeurismus gedrängt" – und findet das ziemlich lästig.
Andererseits erteilt sie der Hauptdarstellerin ein dickes Lob:
"Dass es [...] [in 'Schoßgebete' berührende] Momente gibt, die Elizabeth zu einer über sich hinausweisenden Figur machen, ist ohne Frage das Verdienst von Lavinia Wilson. Die Schauspielerin verhilft Elizabeth zu einer Intensität und Glaubwürdigkeit, die der zwischen beißender Komik, Ironie, Action und Tragik unentschieden hin- und herlavierende Film verfehlt."
Rainer Gansera fragt sich in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, ob "Sex als Erlösung vom Trauma" wenigstens im Rahmen von Wortmanns Films funktioniert – und schüttelt dann den Kopf:
"Der Sex, den das wohlsituierte Ehepaar [gespielt von Wilson und Jürgen Vogel] in ehehygienischer Absicht praktiziert, kann nicht einmal die Andeutung einer solchen Erlösung sein. Er läuft ab wie in einem deutschen Sexfilmchen der späten 1960er Jahre: Dildo-Kauf in einem Sexshop, Bordellbesuch zwecks flottem Dreier – Apotheose einer Spießigkeit, die sich als Mehltau der Langweile über die gesamte Story legt."
SZ-Autor Gansera bringt uns ins Grübeln: Ist ein Dreier im Bordell wirklich ein Beweis für "Spießigkeit"?
Begehrt von Männern
Nun denn. Reden wir von einem, der auf Bordellbesuche verzichten konnte – reden wir von Leonhard Cohen.
Der kanadische Sänger und Dichter hat – wie die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG schön formuliert – "auf seinen achtzigsten Geburtstag hin" ein neues Album herausgebracht: "Popular Problems".
"Wegen einiger Lieder, in denen ich von ihrem Geheimnis sprach, waren Frauen immer außerordentlich nett zu mir, bis in mein hohes Alter. Sie schaffen sich einen geheimen Ort in ihrem vollgepackten Leben und nehmen mich dorthin mit'",
zitiert NZZ-Autor Manuel Cogos den erotisch wohlversorgten Cohen.
Oft begehrt, überwiegend von Männern, wurde auch Pier Paolo Pasolini, der italienische Vorzeige-Intellektuelle.
"Dichter der Asche, Regisseur der Rebellion" nennt ihn die Tageszeitung DIE WELT anlässlich einer Berliner Ausstellung.
Allerdings gab Pasolini, der nicht zuletzt "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" verfilmt hat, irgendwann zu Protokoll: "Aus den sexuellen Phantasien ist tödliche Enttäuschung, fade Lustlosigkeit geworden"...
Ein Bekenntnis, das WELT-Autor Tilmann Krause aufgreift.
"Der entscheidende Begriff [...] ist 'sexuelle Phantasie'. Der Fünfzigjährige, den nächtlichen amourösen Jagden offenbar zunehmend überdrüssig [...], kam dem gigantischen erotischen Projektionsgebäude, das sein kreativer Antrieb gewesen war, offenbar langsam auf die Schliche – und verfiel in Verzweiflung. Picklige Boys aus dem Prekariat kann man ja geil finden; sie zu politischen Erlöserfiguren zu stilisieren, ist bestenfalls naiv. Hormongestützte Weltanschauungen fallen jedenfalls mit den Jahren in sich zusammen, wenn die Libido nachlässt – diese Erfahrung blieb auch Pasolini nicht erspart."
Sex im großen und kleinen Haus
Um bis zuletzt beim Thema zu bleiben:
"Es soll Leute geben, die Sex haben" titelt die SZ, in der Helmut Schödel berichtet, worum es im Dresdner Theater gerade geht:
"Sex im Großen Haus, Sex im Kleinen Haus. In [Roger] Vontobels 'Schöne neue Welt' sah man [...] Menschenschatten beim Kopulieren zu, zu zweit oder zu dritt. Sie kamen dann auch heraus aus ihren Fickzellen oder erschienen in Videoclips. In Barbara Bürks Löhle-Inszenierung standen ein Mann, eine Frau oder kleine Gruppen vor einem Mikrofon und stöhnten vor Lust. So klingen die Schlafzimmer im Durchschnitt. [...] Promiskuität im Großen Haus, partnerschaftlicher GV im Kleinen."
Soweit unsere heutige Sex-Schau.
Bleiben Sie so, liebe Hörer, wie es eine NZZ-Überschrift empfiehlt - bleiben Sie "kritisch ohne Jammerton."
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