Aus den Feuilletons

Rätselhafter Putschversuch - alles Lüge?

Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul am 18. Juli 2016.
Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul nach dem gescheiterten Putsch des Militärs drei Tage zuvor. © AFP - Ozan Kose
Von Hans von Trotha · 18.07.2016
Der Putschversuch in der Türkei bestimmt nach wie vor die Feuilletons. Die "Taz" sieht Verschwörungstheorien aufblühen und meint: Der größte Produzent von Theorien über Geheimbünde ist die türkische Regierung selbst.
Kurz gesagt: Alles Lüge. Oder, so Fatma Aydemir und Samil Sarikaya in der TAZ:
"Nach dem rätselhaften Putschversuch in der Türkei blühen Verschwörungstheorien. Kein Wunder, in Ländern, in denen weitgehendes Misstrauen gegen die Regierung und kaum Transparenz über politische Entscheidungen herrscht, sind Verschwörungstheorien immer ein populäres Mittel, um sich ein Stück weit die Realität zu erklären. In der Türkei ist aber außerdem der größte Produzent von Verschwörungstheorien die Regierung selbst, die seit Jahren von einem 'parallelen Staat' spricht. Umstürzler hätten den Staatsapparat unterwandert, verrieten Staatsgeheimnisse und planten einen Putsch."
Und eh du dich umdrehen kannst, ist er auch schon da, der Putsch. Und ehe du dich zurückgedreht hast, hat der, gegen den er gerichtet war, auch schon entdeckt, wie gut so ein Putsch für ihn ist. Und dann hat er auch noch die sozialen Medien für sich entdeckt, von denen er bislang nur zu wissen schien, wie man sie abschaltet. Johannes Boie rekapituliert in der SÜDDEUTSCHEN:
"Die Situation drehte sich, als Erdogan im Fernsehen auf dem Handy einer Moderatorin des Senders CNN Türk erschien. Er rief die Frau über die Facetime-Funktion seines iPhones an … Der Präsident forderte das Volk auf, gegen den Coup zu protestieren. Facebook-Videos waren auch für unbeteiligte Zuschauer in aller Welt das Mittel der Wahl, um sich ein Bild von den Zuständen in Istanbul und Ankara zu verschaffen."
Und:
"Erdogans Helfer ließen massenhaft SMS-Nachrichten verschicken, offenbar an sämtliche Bürger der Türkei: Sie sollten sich für ihren Präsidenten erheben. Ein anderes soziales Netzwerk kümmerte sich um den Rest: Ab zwei Uhr früh schallte der Aufruf zum Widerstand gegen das putschende Militär im gesamten Land von den Türmen der Minarette. Das türkische Wochenende war deshalb auch ein Lehrstück für künftige Putschisten. Mit dem Gewehr ins Fernsehstudio – das reicht nicht mehr."

Twitter und Facetime statt Fernsehen und Minarette

Tja. Putschisten im Fernsehstudio – das war noch der gute alte öffentliche Raum, getrennt von dem, was man für sich behalten wollte. Dazu zitiert Kia Vahland in der SÜDDEUTSCHEN anlässlich einer Hamburger Manet-Ausstellung:
"Artikel 11 im französischen Pressegesetz von 1868 lautet: Jede Veröffentlichung von einem Geschehen, das mit dem Privatleben zu tun hat, ist eine Straftat, die mit 500 Franc geahndet wird".
Vahland dazu:
"Aus heutiger Sicht wirkt dieser Versuch, Innen- und Außenleben fein säuberlich zu trennen, rührend."
In der Tat. Heute gehören nicht mehr Fernsehen und Minarette, sondern Twitter, Facetime und Facebook, gerade da, wo es hart auf hart kommt, zu den alleröffentlichsten Räumen.
Social Media Freund Erdogan hat, logisch, längst zurückgerudert, beziehungsweise rudern lassen:
"Ex-Generalstabschef Hilmi Özkök twittert Sonntagnachmittag und bittet, keine Fotos zu teilen, die die 'Würde des Militärs' verletzten".
Das berichtet Esmahan Aykol in der WELT und fügt nicht nur hinzu:
"Was man auf den Fotos sieht, verletzt in jedem Fall die Menschenwürde."
Er erläutert zudem die Bedeutung der Social Media nach dem Putsch:
"Ein türkischer Menschenrechtsverein sucht in den sozialen Medien nach den Familien der Soldaten, die ums Leben gekommen sind. Von Rechtsstaatlichkeit kann seit Jahren nicht mehr die Rede sein, aber es gibt keine andere Wahl, als mit allen Mitteln zu kämpfen. Tayyip Erdogan hat den Putschversuch mehrfach 'ein Geschenk Gottes' genannt. Wer die deutsche Geschichte kennt, weiß um den Reichtagsbrand."

Wahrheit hinter der Schönheit

Wer die Geschichte jetzt nicht so gut kennt, findet dazu vielleicht etwas auf Youtube, etwa bei "Kurzgesagt". Oder auch "In the Nutshell"? Von Kathrin Hollmer lernen wir in der SÜDDEUTSCHEN, dass das mit dem Namen nicht so einfach ist:
"Irgendwie heißt Philipp Dettmers Youtube-Kanal 'In a Nutshell', irgendwie aber auch 'Kurzgesagt' …. 'Ich bin auch nicht sicher, wie wir heißen', sagt er selbst. … 'Die meisten sagen Kurzgesagt. Wir mögen den Namen 'In a Nutshell by Kurzgesagt.'"
Was, ehrlich gesagt, nicht wirklich kurz ist. Aber egal. Sonst sind sie richtig kurz bei "Kurzgesagt". 'Kurzgesagt', erklärt Kathrin Hollmer kurz, "erklärt die Welt in wenigen Minuten" – für die Evolution etwa brauchen sie gerade mal zwölf. Dafür hat "Kurzgesagt" den renommierten Datenvisualisierungs-Award "Information is Beautiful" in Gold bekommen. Aber Vorsicht: Auch hinter der Schönheit von "Kurzgesagt" steckt eine andere Wahrheit:
"'Die Leute denken immer wieder, dass wir den Stil, Flat Design, erfunden haben', sagt Dettmer. 'In Wahrheit kann ich einfach nicht dreidimensional designen.'"
Merke: Was immer du liest, hörst oder gar siehst über ein soziales Netz: Kurz gesagt ist es meistens. Oft zu kurz. Und manchmal ist es halt auch schlicht nicht wahr.
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