Aus den Feuilletons

Plädoyer gegen den Kuschelkurs Berlins im Verkehr

Michael Müller (SPD) - hier noch in seiner Rolle als Berliner Stadtentwicklungssenator, heute Bürgermeister - bei der Präsentation einer sogenannten "Berliner Begegnungszone", Teil der Fußverkehrsstrategie der Hauptstadt (2014).
Michael Müller (SPD) - hier noch in seiner Rolle als Berliner Stadtentwicklungssenator, heute Bürgermeister - bei der Präsentation einer sogenannten "Berliner Begegnungszone", Teil der Fußverkehrsstrategie der Hauptstadt. © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Von Paul Stänner · 16.08.2015
Die "Welt" spricht sich gegen Verkehrsberuhigung in der Hauptstadt aus und wünscht sich weiterhin Tempo und Asphalt. Und der Autor setzt noch einen drauf: Wer Dorfatmosphäre wolle, könne ja in die Lüneburger Heide auswandern.
Das Feuilleton vom 17. August wundert sich. Und wie das so ist mit dem Wundern – es wird erst wahrgenommen, wenn es sich als entnervtes Stöhnen äußert.
Im Berliner TAGESSPIEGEL berichtet Nicola Kuhn von einem Prozess, der zur Erleichterung aller Beteiligten gleich wieder vertagt wurde. Der Aktionskünstler Klaus Rudolf hat drei Basilikumpflänzchen entwendet und möchte diese Tat nicht als Diebstahl, sondern als Kunst gewertet wissen. Nicola Kuhn erinnert an Fälle wie jene, in denen ein Mordaufruf gegen Claudia Roth, die Forderung, Sabine Christiansen zu enthaupten oder einfach ein "Tötet Helmut Kohl" als Kunstfreiheit durchgingen. Sie erwartet wieder einen Freispruch und erkennt eine Lehre in der Vergangenheit:
"Die künstlerische Freiheit endet da, wo das Banale beginnt."
Wir sind gespannt.
"Es ist zum Kuhglockenschellen" schimpft die FRANKFURTER ALLGEMEINE, weil sie sich wundert. Es geht um die Einsatz von Musik in Krankenhäusern, die die Genesung der Patienten verbessern soll. Ein Autor mit dem Kürzel "jom" erregt sich:
"Die jüngste Metastudie … spricht in den höchsten Tönen vom therapeutischen Mehrwert …, doch in den Krankenhäusern rührt sich nichts."
Blockbusterserien ohne Ende
Offenbar sind die Heilanstalten hier beratungsresistent, obwohl "jom" hinterlistig darauf hinweist, dass neben dem therapeutischen auch ein finanzieller Gewinn zu realisieren wäre. Er fordert die Ärzte auf "So spielt doch!" – was sie aber eben nicht tun.
"jom" ist vielleicht deshalb so frustriert, weil er glaubt, die Musikindustrie solle die therapeutischen Melodien bereit stellen – er sollte bedenken, dass die pharmazeutische Industrie viel größere Erfahrung darin hat, profitable Modelle in den Gesundheitssektor einzuschleusen. Dann klappt das auch mit der Musik.
Es wundert sich still die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Bernd Graff stellt fest, dass es das Ende nicht mehr gibt. Früher – und da geht Graff bis in die Antike zurück – hatten Geschichten ein Ende. Heute dagegen:
"Es ist, als ob die neuen Geschichten gar nicht mehr aufhören wollen, im Fernsehen, den Blockbusterserien, in den Sequels, den Buchreihen, den ewig remixten Songs und den immer gleichen Beats."
Das kann uns ungerührt lassen, aber Graff hat eine ganze Reihe von Beispielen zusammengestellt, zu denen auch gehört: "Krisen ohne Entscheidung" und "Unersättliches Wachstum" – da klingt es für uns schon bedenklich. Sind endlose Krisen Folgen des Erzählens ohne Ende?, fragen wir uns. Graff gibt sich offen:
"Das alles muss man nicht kritisieren oder schlecht finden. Doch kann man wohl mit Rilke sagen: 'Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.'"
Schlafmützige Verkehrsstrategie
Schon vor unserer Zeit war die Maaßenstraße in Berlin ein urbanes Highlight – es war das Berlin des "Cabarett"-Romans, hier wohnten Else Lasker-Schüler und Rudolf Steiner. Verwunderung und Erregung verleiten Tilman Krause in der WELT zu der These:
"Die Berliner haben einfach kein Verhältnis zur Stadt."
Sein Ärgernis: Auf dem kurzen Abschnitt zwischen Nollendorfplatz und Winterfeldplatz soll eine "Begegnungszone" entstehen, will sagen, der Verkehr wird von "schlafmützigen" 30 km/h auf 20 herabgeregelt, die Maaßenstraße bekommt eine "Fahrbahnverschwenkung" und wird einspurig geführt. Auf den jetzt überbreiten Fußwegen werden Bänke aufgestellt und für Kinder "Sitztiere". Krause fürchtet, dass sich "lauter liebe Menschen vor lauter Begeisterung über so viel Begegnung dauernd in den Armen liegen". Krause will die ruppige Berliner Urbanität vor den Dorfbewohnern retten:
"Hier braucht man Tempo, Asphalt, und jenen ausgeschlafenen Berliner, der im Nebenberuf Nachtschattengewächs ist. Wer was anderes will, kann ja in die Lüneburger Heide auswandern."
In der Maaßenstraße finden unsere Feuilletons zusammen: Klaus Rudolf kann sein geklautes Kunst-Basilikum in der 20 km/h-Begegnungszone pflanzen. Die FAZ kann ihre Kuhglocken den "Sitztieren" umhängen. Stadtplaner können erkennen, das auch für sie die künstlerische Freiheit dort aufhört, wo das Banale beginnt, und wir kommen jetzt zu einem Ende wie für Rilke: Tschüss.
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