Aus den Feuilletons

"Patriotismus für uns reklamieren"

Die SPD wirbt mit einem Foto von Willy Brandt und der Aussage "Deutsche wir können stolz sein auf unser Land" und "Wählt Willy Brandt" vor den Bundestagswahlen 1972 für Stimmen.
Die SPD wirbt mit einem Foto von Willy Brandt und der Aussage "Deutsche wir können stolz sein auf unser Land" und "Wählt Willy Brandt" vor den Bundestagswahlen 1972 für Stimmen. © dpa / picture alliance / Alfred Hennig
Von Arno Orzessek · 30.11.2016
"Deutsche – wir können stolz sein auf unser Land." Paul Ingendaay nutzt in der "FAZ" den alten Wahlkampfslogan Willy Brandts, um eine neue Patriotismus-Debatte zu eröffnen.
Kennen Sie schon die ""Bundesbade-Agentur"" BBA, liebe Hörer?
Wie der Berliner TAGESSPIEGEL berichtet, bietet die BBA "'Schwimmkurse für Flüchtlinge'" an…
Darunter auch den Kurs "'Baby-Flüchtlingsschwimmen (ab 3 Monate)'" - inklusive der Übungen "'Festhalten an Treibgut, Tauchen bei hohem Wellengang, Springen vom Schlauchbootrand und Atemtechniken bei Nacht und Kälte'".
Schlaumeier mögen nun folgern, dass die BBA ihre Kurse wohl in Afrika durchführen muss…
Denn wer’s übers Mittelmeer zu uns geschafft hat, braucht keine Wellengang-und-Treibgut-Übungen mehr. Und wer unterwegs ertrunken ist, auch nicht.

Darf man das? Soll man das?

Indessen – Sie ahnen es –, berichtet der TAGESSPIEGEL von einer Satire.
Sie ist im "Almanach" erschienen, dem "Satiremagazin der Bundespressekonferenz zum Bundespresseball" - jener Veranstaltung, bei der am vergangenen Wochenende auch Bundespräsident Gauck über den Tanzboden gefüßelt ist.
Und wie immer bei Satire, die auf Zynismus baut, lautet die Frage: Darf man das? Und wenn ja: Soll man das?
Unter der maliziösen Überschrift "Witzig à la Hauptstadt" zitiert die TAGESZEITUNG eine Erklärung von Jens Peter Paul aus der "Almanach"-Redaktion:
"Tatsächlich ist das Stück ganz bitter und böse. Es ist anstößig. […] Es gefällt mir selbst absolut nicht. Und lustig ist es erst recht nicht. Aber – Überraschung – das soll es auch nicht.' Es sei eine Reaktion […] auf den massenhaften Tod von Menschen im Mittelmeer."

"Wir haben als Deutsche ein Benennungsproblem"

Was man sagen darf, kann, soll oder muss – das treibt die Feuilletons auch jenseits der Satire um.
"'Deutsche – wir können stolz sein auf unser Land.'"
So hieß der patriotische Slogan, unter dem 1972... nein, liebe Grüne, Linke und Linksliberale, nicht etwa die CDU, auch nicht die CSU, noch überhaupt eine Partei aus dem konservativen oder rechten Spektrum in den Wahlkampf zog, sondern die SPD.
Daran erinnert Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, um auf ein aktuelles Dilemma zu kommen:
"Allen ist bewusst, dass wir als Deutsche ein Benennungsproblem haben. Wir sagen ungern 'Patriotismus', 'Vaterland' oder 'Vaterlandsliebe', dürfen zugleich aber nicht zulassen, dass andere es sagen. Sie könnten nämlich die Diskurshoheit an sich reißen und die falschen Dinge propagieren."

Dann "tun es die anderen umso hemmungsloser"

Wenige Zeilen später erwähnt Ingendaay eine Diskussion, bei der Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse fast das Gleiche gesagt hat, nur knackiger.
"'Wenn wir nicht die Hemmung ablegen, Deutschsein und Patriotismus für uns zu reklamieren, tun es die anderen umso hemmungsloser.'"
Sprachlich hemmungslos und hemmungslos patriotisch, das war Donald Trump als Make-America-great-again-Wahlkämpfer.
Seit er zum US-Präsidenten gewählt wurde, hat es seinen Kritikern zwar nicht die Sprache verschlagen, eher im Gegenteil – mit einer Stimme allerdings sprechen sie nicht.
Unter dem Titel "Die liberale Gesellschaft und die irre Suche nach ihren Feinden" macht Ijoma Mangold in der Wochenzeitung DIE ZEIT "Anmerkungen zu einer hysterisierten Debatte" und will wissen:
"Ist jemand ein Menschenverächter und Rassist, wenn er die identitätspolitischen Auswüchse unserer Zeit anspricht?"

Westliche Identitätspolitik aufs Korn genommen

Mangold, der den Universalismus schätzt und die Mehrheit nicht verachtet wissen will, bekämpft unter anderen den FAZ-Autor Patrick Bahners, der es, verkürzt gesagt, mit den Rechten der Minderheiten hält.
Mangold nennt Bahners Argumente "rabulistisch" und "nahezu bösartig" und nimmt die jüngste westliche Identitätspolitik wie folgt aufs Korn:
"Wer nicht weiß war und nicht hetero, dessen Identität wurde als Bereicherung für das Gemeinwesen gefeiert. […] Die tonangebende Gesellschaft gab allerdings an keiner Stelle zu erkennen, dass sie sich auch durch die Geschichte verarmter heterosexueller Weißer bereichert fühlen könnte." -
So viel für dieses Mal, liebe Hörer…
Verlassen Sie sich drauf, auch beim nächsten Mal werden wir wieder von Ihnen abfordern, was in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG Überschrift wurde – nämlich:
"Kernige Aufmerksamkeit."
Mehr zum Thema