Aus den Feuilletons

Opfer ohne Beachtung

Die kleine Figur eines Engels liegt am 22.12.2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin auf einer Grabkerze.
Gedenken an die Opfer vom Breitscheidplatz: Wie hießen sie? Wer waren sie? © picture alliance / Rainer Jensen/dpa
Von Burkhard Müller-Ullrich · 11.01.2017
Über die Menschen, die der Attentäter Anis Amri in Berlin mit einem Lkw überfuhr, wird in Deutschland geschwiegen. Das hebt "Die Zeit" hervor und fragt, woran das liegt: Respekt? Ignoranz? Eine Erinnerungskultur, die mit dem Anschlag nicht fertig wird?
Es ist schon seltsam: Während über die ausländischen Opfer des Berliner Weihnachtsattentats sofort vieles in der internationalen Presse stand – die New York Times veröffentliche Kurzporträts der Ermordeten, in Italien und Israel gab es lange Nachrufe – hört man über die deutschen Toten hierzulande so gut wie nichts. Noch seltsamer mutet das Schweigen der Politiker an.
"Die Bundeskanzlerin beließ es bei einem Presse-Statement und dem Gedenkgottesdienst, den sie zusammen mit dem Bundespräsidenten besuchte. Es brauchte erst die bittere Enttäuschung der Angehörigen, bis im Berliner Abgeordnetenhaus eine Gedenkminute und eine Rede angekündigt wurden. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert reagierte auf die Kritik und plant, in der nächsten Sitzungswoche des Bundestages zum Gedenken zu sprechen ..."
... schreibt Nina Pauer in der ZEIT und setzt sich relativ behutsam mit diesem Phänomen auseinander, das eigentlich ein zivilisatorischer Skandal ist. Behutsam, indem sie alle möglichen Gründe für eine solch distanzierte Verhaltensweise sanft abwägt:
"Es kann auch als Zeichen des Respekts interpretiert werden, trauernde Familien in Ruhe zu lassen."
Oder:
"Vielleicht spielt es für die Berliner Politik auch eine Rolle, sich nicht dem Vorwurf der Instrumentalisierung aussetzen zu wollen."
Oder:
"Hat das vergangene Jahr so etwas wie eine Überstrapazierung der Emotionen hinterlassen?"
Bloß eine Möglichkeit erörtert die ZEIT-Autorin nicht, und zwar, dass unsere regierenden Politiker im vollen Bewußtsein, dass dieser Terroranschlag auch eine Folge der von ihnen zu verantwortenden Versäumnisse war, großes Interesse daran haben, ihn möglichst tief zu hängen und schnell vergessen zu machen.

Der Täter kommt nicht aus unseren Reihen

Es kommt aber noch etwas spezifisch Deutsches hinzu, das nicht nur die Politiker, sondern uns alle – und die Medien als Spiegel dieses Denkens – betrifft. Nina Pauer formuliert es so:
"Ein Land, zu dessen Selbstverständnis es seit Generationen gehört, ein Tätervolk zu sein, kennt Erinnern nur als Mahnen, als Informiertwerden durch Audioguides und Geschichtsbücher, als nie ganz unschuldiges Trauern an Orten nachdenklicher Erinnerung. Das Denken an die Opfer fiel stets zusammen mit dem Wissen, auch die Täter in den eigenen Reihen zu finden. Die Toten von Berlin brechen mit diesem Schema."
Da kommt also nach Auffassung der ZEIT-Autorin die Herausforderung einer anderen Erinnerungskultur auf Deutschland zu.
Und damit schwenken wir den Focus vom Berliner Breitscheidplatz zu einem anderen Berliner Platz, der unter dem Namen Kulturforum für erregte Feuilletondebatten und gleichzeitig großes Gähnen sorgt, denn – so beginnt ein Text von Patrik Schmidt in der WELT:
"Das Kulturforum ist leer. Menschenleer."

Nur Gentrifizierung hilft gegen Freiflächen

Diese Leere wollen die Schweizer Architektenstars Herzog und de Meuron mit ihrem Museum der Moderne beseitigen, aber schon gibt es Gemaule, dass da wohl ein Kultur-Supermarkt entstünde. DIE WELT allerdings schreibt:
"Wenn die vergangenen zwanzig Jahre eines gezeigt haben, dann, dass es für verödete und allgemein gemiedene Freiflächen in dieser Stadt nur einen funktionierenden Weg zurück ins öffentliche Leben gibt: die totale Gentrifizierung!"
Sollten die hippen Kulturbürger, die dann die Co-Working-Spaces und Pilates-Studios rund ums Kunstgewerbemuseum und die Nationalgalerie bevölkern, dann mal zum besseren Denken eine reizarme Umgebung suchen, dann ist die Feuilletonseite der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG mit dem Titel
"Wohnen in Winzigkeit"
das Richtige für sie. Denn dort geht es um den letzten Architekturschrei für entnervte Großstadtmenschen, nämlich Kleinsthäuser auf dem Land, sozusagen Schrebergartenhütte reloaded, aber natürlich auf umweltfreundliche Art.
Schon Le Corbusier schuf in Cap Martin ein winziges Blockhäuschen mit Blick aufs Meer, Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger wohnten zumindest zeitweise in Holzhütten. Räumliche Enge tut großen Köpfen offenbar gut. Diogenes gab sich mit einer Tonne zufrieden. Dass dieser Gedankengang in der (übrigens kleinformatigen) NZZ, also in einer Schweizer Zeitung, entwickelt wird, verwundert nicht.
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