Aus den Feuilletons

Noch doller als gelogen? - Postfaktisch!

Nachbildungen menschlicher Ohren
Postfaktisch und das Danach - künstliche Ohren zum Nachhören der Wahrheiten © picture-alliance / dpa / Volker Heick
Von Tobias Wenzel · 10.12.2016
"Gelogen, gelogener, postfaktisch" - Die WELT hat sich in dieser Woche des neuen Umgangs mit der Wahrheit angenommen - und die NZZ hat diese neue Wahrheitspraxis am Beispiel Trumps untersucht. Außerdem war da dann noch das ganz große Rätselraten um James Bond in der SZ.
"Neulich sagte einer meiner Bekannten über einen Freund, dass dieser sich postfaktisch kleide – er ignoriere die Wahrheiten seines Körpers." Matthias Heine führte das in der WELT als einen Beleg dafür an, dass das Wort "postfaktisch" schon "in der Witzkultur angekommen" sei. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat "postfaktisch" zum Wort des Jahres erklärt. "Schuld sind Trump und der Brexit", schrieb Heine. In politischen und gesellschaftlichen Diskussionen gehe es weniger um Fakten als um gefühlte Wahrheiten. Um nicht zu sagen: um Lügen. "Gelogen, gelogener, postfaktisch" lautete die Überschrift des Artikels.
"Rationales Denken wurde lächerlich gemacht", schrieb der Zoologe und Evolutionsbiologe Axel Meyer in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über den Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump: "In den letzten Jahren behauptete Trump mehrfach, dass der anthropogene Klimawandel nicht real sei – und sogar, dass es sich um einen von China in die Welt gesetzten Mythos handle, mit dem die amerikanische Wirtschaft geschwächt werden solle." Gelogen, gelogener, postfaktisch eben. Und wissenschaftsfeindlich. "[D]ie Wissenschaft lässt sich nicht aus der Welt reden. Werden ihre Erkenntnisse ignoriert, schlägt die Wirklichkeit irgendwann umso heftiger zurück. Hoffentlich ist bis dahin kein zu großer Schaden entstanden", schrieb der Evolutionsforscher schließlich. Und man wusste nicht so recht, was überwog: die Angst vor dem möglichen Schaden oder die Hoffnung auf eine Menschheit, die wieder vermehrt ihr Hirn zum vernünftigen Denken nutzt.

Was wird eigentlich aus James Bond in dieser neuen Welt?

Ganz andere mit dem Postfaktischen verbundene Zukunftsüberlegungen stellte die SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG an: "Was wird aus James Bond in der Post-Brexit-Welt?", fragte Alexander Menden: "007 wird in Diensten eines isolationistischen Überwachungsstaates stehen."
Das würde dem aktuellen Bond-Darsteller Daniel Craig, der für den Verbleib Großbritanniens in der EU geworben hatte, sicherlich gar nicht gefallen. Aber es gibt noch Hoffnung für Bond-Fans. Menden zitierte nämlich in der SZ Klaus Dodds, Professor für Geopolitik in London und Autor eines Buchs zur geopolitischen Ausrichtung der James-Bond-Geschichten: "Bond könnte auf den Kontinent reisen und eine Agentin aus Deutschland treffen, die eigentlich mit ihm zusammenarbeiten müsste. Aber sie traut den Briten nach dem EU-Ausstieg nicht mehr, auch wegen der traditionellen Verbindung nach Amerika, das jetzt von Trump regiert wird", empfahl Dodds den Drehbuchautoren des nächsten Bond-Films. "Sie ist unkooperativ und will keine Informationen mit ihm teilen. Er muss sie verführen, um an diese Informationen zu kommen […]."
Als Luxusprobleme müssen diese Überlegungen wohl Aslı Erdoğan vorkommen. Denn die türkische Schriftstellerin spürt zurzeit ganz real die Brutalität des postfaktischen Geistes in ihrem Land. "In den vergangenen vier Monaten sind mindestens 40.000 Menschen unter kafkaesken Umständen verhaftet worden, […] ein Leben kann durchgestrichen werden, nur weil ein Nachbar Lust aufs Denunzieren verspürt, oder weil ein Staatsanwalt seinen Ehrgeiz befriedigen muss", schrieb die Autorin in einem Brief an die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, der aus der Gefängniszelle geschmuggelt werden konnte. Aslı Erdoğan ist seit drei Monaten in Haft, weil sie Mitglied im Beirat einer kurdisch-türkischen Zeitung war. Für eine Verhaftung genüge ein "Name im Impressum", eine "Unterschrift unter einer Karikatur" oder ein "Konto bei einer 'bedenklichen‘ Bank".

Nach dem Postfaktischen die Wahrheit über das "nur gefühlte Postfaktische"?

"Wäre es für Sie denkbar, dass man Sie wegen einer Ein-Dollar-Note als Terrorist ins Gefängnis steckt?", fragte Bülent Mumay, als wollte er Aslı Erdoğans Aussagen belegen, in FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "In jedem Rechtssystem ist es eine Straftat, Geld zu stehlen. Bei uns ist es eine Straftat, welches zu besitzen." Seit Präsident Erdoğan den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen als Drahtzieher des gescheiterten Putsches bezeichne, würden auch die Gülen-Anhänger als vermeintliche "Mitglieder einer Terrororganisation" verhaftet. "Sie hatten eine Ein-Dollar-Note bei sich!" sei dann die Begründung. "Ich weiß, das klingt absurd", schrieb Mumay. "Aber die Argumentation der Regierung lautet: Die putschenden Militärs trugen Ein-Dollar-Scheine bei sich, denn Fethullah Gülen hatte zuvor diese als eine Art Mitgliedsausweis an seine Anhänger in der Türkei verteilt. Die Seriennummern auf den Scheinen sind Mitgliedsnummern."
Der FAZ-Leser konnte schockiert sein, sich aber auch zugleich darüber freuen, dass vor seinen Augen das Postfaktische entlarvt wurde. Allerdings nur, wenn derselbe Leser nicht Jan-Werner Müllers Artikel in der SZ gelesen hatte, in dem der Politikwissenschaftler behauptete: "Das postfaktische Zeitalter ist auch nur eine gefühlte Wahrheit".
Anstatt uns von Müller (in aller Ausführlichkeit) die letzte Gewissheit rauben zu lassen, erfreuen wir uns lieber an der schönen Seite des Postfaktischen, der kreativen Lüge in der Fiktion. Tobias Schwartz erinnerte im TAGESSPIEGEL an den Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, der an diesem Freitag 100 Jahre alt geworden wäre. Hildesheimer habe nicht nur mit seiner Biographie über einen von ihm erfundenen Kunsttheoretiker das Fachpublikum getäuscht. Auch habe er sich den Literaten Gottlieb Theodor Pilz ausgedacht und seinen Eltern 1951 von ihm so berichtet: Er "war weniger ein Schöpfer als ein Dämpfer. Es ist ihm zu verdanken, dass Turnvater Jahn keinen Dramenzyklus geschrieben hat, dass Aurore Dupin-Dudevant Männerkleidung angelegt hat und sich George Sand genannt hat, während er Chopin daran gehindert hat, Frauenkleider anzulegen und sich Aurore Dupin zu nennen".
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