Aus den Feuilletons

Machen Algorithmen das Wählen überflüssig?

Datenzentrumschef Joel Kjellgren läuft durch die Serverräume im schwedischen Lapland.
Big Data: Die "FAZ schreibt über die Zumutungen des digitalen Zeitalters. © AFP / JONATHAN NACKSTRAND
Von Arno Orzessek · 07.01.2017
Die "FAZ" lädt zu einem Gedankenexperiment ein, wie durch Big Data nicht nur Konsumenten, sondern auch die politischen Bürger gesteuert werden könnten. Eine künstliche Intelligenz würde aus unseren Daten die politischen Präferenzen ableiten - Wahlen bräuchte es nicht mehr, auch keine Regierung im bisherigen Sinn.
Soviel vorab:
Wer die Feuilletons liest, um die Zeitgeschichte in Flammen, die Kritiker im Tumult und den Zeitgeist in greller Ekstase zu erleben, für den war die Woche Nr. 1/2017 keine Offenbarung.
Es herrschte eine, sagen wir, unaufgeregt-betuliche Atmosphäre.
Sie können sich also bequem zurücklehnen, liebe Hörer. Eine Haltung, die sich ohnehin anbietet, wenn man die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aufschlägt.
In der NZZ philosophierte Roberto Simanowski, der in Hongkong Professor für digitale Medien ist, im Grundton der Sorge über die Smartphone-Zombies, kurz Smombies genannt.
Also jene Süchtigen, die egal wann, egal wo auf die Displays ihrer Handys starren.
"Die 'Smombies' […] [so Simanowski] sind nicht Untote, die zurückkamen, sondern Abwesende, die ihre Körper zurückliessen. […] Was uns [die Nicht-Smombies] ärgert, ist […] die Vernichtung des Zufalls. Denn wie kann sich noch etwas ereignen, wenn selbst in der Öffentlichkeit alle in ihrer eigenen Welt sind? Ärgerlich ist, dass wir nicht infrage kommen, dass wir keine Rolle spielen, dass wir ignoriert werden. Es ist die Einsamkeit, in die uns die 'Smombies' öffentlich stossen, die wir ihnen übelnehmen",
behauptete der NZZ-Autor Simanowski, dem wir beileibe nicht folgen konnten.
Jedenfalls hat es uns noch nie gestört, für displayglubschende Smombies nicht "infrage" zu kommen. Sollen sie doch, pardon, das Beste verpassen!
Auch die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG knöpfte sich die Zumutungen des digitalen Zeitalters vor und titelte:
"Demokratie? Eine veraltete Technologie!"
Yvonne Hofstetter zeigte sich besorgt, dass mittels Big Data nach den willfährigen Konsumenten auch die politischen Bürger durch Algorithmen gesteuert werden könnten.
Weil es noch nicht ganz so weit ist, lud Hofstetter zum Gedanken-Experiment ein:
Was wäre, wenn die vielen digitalen Apparate - die sogenannte Umgebungsintelligenz - so viele Daten von uns sammeln würden, dass sich unsere politischen Vorlieben daraus ableiten und an die zuständigen Stellen weitergeben ließen?
"Wahlen wären […] überflüssig [so Hofstetter]. Allerdings auch Berufspolitiker und das Parlament. Selbst die Regierung könnte durch eine Art Korrespondenzbeauftragten ersetzt werden, wenn man ein 'System of Systems' errichtete, eine künstliche Intelligenz, bei der alle Rohdaten der Umgebungsintelligenz zusammenliefen. Sie würde unsere politischen Präferenzen konsolidieren und daraus die global optimale Handlungsstrategie berechnen. So würde selbst die Regierung zu einem simplen Aktor der Kontrollstrategie degradiert."
Tja, "Aktor der Kontrollstrategie"!
Vermutlich hätte die Verwendung des Wortes "Handlanger" eine abschwellende Wirkung auf das Fremdwort-Crescendo der FAZ-Autorin Hofstetter gehabt.

Erbgut umschreiben für biotechnologische Analphateben?

Ebenfalls digital sensibel: die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
In der jahresanfänglichen SZ-Sammlung von "Ideen, die bleiben" schrieb Andrian Kreye über "Erbgut umschreiben".
Was mithilfe des Programms CRISPR offenbar auch biotechnologische Analphabeten hinbekommen können.
"Nimmt man an einer Vorführung teil [so Kreye] , ist man […] vor allem verblüfft, wie gering der Aufwand ist. Hat man die DNA-Stränge erst einmal verstanden, ist die Veränderung eines Genoms mit CRISPR auf einem ganz normalen Computer so einfach wie die Arbeit an einem Text. Das Rohmaterial eines Genoms kann man inzwischen für zweistellige Summen beim Fachhandel beziehen."
Apropos Computer! Bestimmt wissen Sie, wer Folgendes gesagt hat:
"Ich glaube, dass Computer unsere Leben sehr viel komplizierter gemacht haben. […] Das ganze Zeitalter des Computers hat dazu geführt, dass niemand genau weiß, was eigentlich passiert. Wir haben Geschwindigkeit, und wir haben jede Menge anderer Sachen, aber ich bin nicht sicher, ob wir die notwendige Sicherheit haben."
Also sprach Donald Trump.
Die Tageszeitung DIE WELT zitierte den gewählten US-Präsidenten in ihrem Artikel zum 85. Geburtstags des Medientheoretikers Paul Virilio.
Der WELT-Autor Christian Meier blickte auf Virilios berühmten Aufsatz "Rasender Stillstand" von 1990 zurück und paraphrasierte:
"Die positiven Folgen des Fortschritts, den Virilio keineswegs ablehnt, seien durch Propaganda ersetzt worden, der Propaganda des nie enden wollenden Fortschritts. Ein deutlicher Hinweis in Richtung Silicon Valley, der Brutstäte der Beschleunigung unserer durchdigitalisierten Gesellschaft. Von dort aus wird uns unerschütterlich die Weltverbesserung versprochen. Wer den Fortschritt analysieren will, sagte jedoch Virilio, müsse eben auch die Unfälle des Fortschritts untersuchen. Viel zitiert wird seine Erkenntnis: 'Die Erfindung des Schiffs war gleichzeitig die Erfindung des Schiffswracks.'"
So Paul Virilio in einem WELT-Artikel.

"Küsse öffnen die Welt"

Unterdessen forderte die Wochenzeitung DIE ZEIT: "Verkauft uns nicht für dumm!"
Wandte sich damit allerdings nicht an Google & Co., sondern an die zeitgenössischen Künstler.
"Was bleibt der Kunst, wenn die Welt in Flammen steht? Sich auf die guten alten Werte besinnen? Oder muss sie politisch werden?",
legte sich Christine Lemke-Matwey Fragen der allergrundsätzlichsten Art vor.
Weshalb auch ihre Antworten – trotz der Nennung von unzähligen Künstler-Namen und Kunst-Ereignissen – nur allerallgemeinster Natur sein konnten.
"Vielleicht sollte man einfach dankbar sein [warb Lemke-Matwey], dass es so etwas Querständiges, auf Anhieb Zweckfreies, ja Anti-Kapitalistisches wie die Kunst (und die Kunstbetrachtung) weiterhin gibt. Etwas so Geheimnisvolles, Irreales, Reiches und Selbstverliebtes, das es auch deshalb zu bewundern und bewahren gilt, weil es, wenn die Qualität stimmt, schon durch seine schiere Existenz politisch ist."
Puh! Was für eine krude ZEIT-Sentenz. Gequetscht voll von anachronistischen Kunst-Klischees.
Aber wir wollen am Ende nicht widersprechen – wir wollen zustimmen. Nämlich jener schönen Behauptung, die in der NZZ Überschrift wurde.
Und die sie, liebe Hörer, an diesem Sonntag gründlich überprüfen sollten. Sie lautet:
"Küsse öffnen die Welt."
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