Aus den Feuilletons

Kunst und Täuschung

Argentinische Künstler kreieren visuelle Illusionen am JingAn Kerry Center in Shanghai, China.
Karl Heinz Bohrer beklagt in "Ist Kunst Illusion?", dass die Kunst zu zahm geworden sei. Spaß macht sie, wie diese argentinische Künstler in Shanhai zeigen, trotzdem. © picture alliance / dpa / Weng Lei
Von Maximilian Steinbeis · 23.03.2015
Die "NZZ" rezensiert die Streitschrift "Ist Kunst Illusion?". Vor charismatischen Menschen warnt Walter Kirn, Autor des literarischen Sachbuchs "Blut will reden – Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade", in der "taz".
"Denn schön lässt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist."
Zweieinhalbtausend Jahre alt ist diese Zeile, der Sophist Gorgias hat sie geschrieben, und der Soziologe Wolfgang Sofsky zitiert sie in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG in seiner Rezension des jüngsten Buches von Karl Heinz Bohrer: "Ist Kunst Illusion?", geschrieben, so Sofsky, um
"die Künste vor den Übergriffen der Geschichte, der Psychologie und Moral zu retten".
Das findet der NZZ-Rezensent durchaus respektabel, wendet aber doch behutsam ein, dass Kleists Kohlhaas womöglich nicht nur als "Exemplum 'imaginativer Intensität'", sondern auch als moralisches Lehrstück über die unbedingte "Wut zur Rache" zu lesen sei und Ovids Metamorphosen nicht nur als "frühes Beispiel einer reinen, ausgekühlten Ästhetik", sondern auch als "Entlarvung göttlicher Willkür". Kunst mag Illusion sein, aber das "sei kein Grund, die Wahrheitsfrage der Künste in toto zu verabschieden". Gorgias habe, als er das Täuschen und Getäuschtwerden pries,
"bekanntlich nicht für Lügen und Irreführung plädiert, sondern für Fiktionen. Fiktionen indes können in einem gewissen Sinne wahr sein, obwohl sie niemals abbilden, darstellen oder beschreiben, was gerade der Fall ist."
Skepsis bei Menschen mit Charma
Wer nach schillerndem Anschauungsmaterial zum Thema Lüge und Fiktion sucht, wird in der TAZ fündig. Clark Rockefeller nannte sich der Mann, dem der Schriftsteller Walter Kirn 1998 begegnete und dessen Eleganz und Charisma er sofort verfiel, bis sich 15 Jahre später herausstellte, dass der vermeintliche Rockefeller in Wahrheit Christian Gerhardsreiter hieß, ein Hochstapler aus Oberbayern war und ein Mörder obendrein. Als Fiktion, als Illusion, als Kunst wird diese Begegnung weder Walter Kirn noch den Lesern seines Buchs "Blut will reden" viel Freude bereiten.
"Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Leute skeptischer zu machen gegenüber charismatischen Menschen",
so Kirn im Interview mit TAZ-Autor Tim Caspar Boehme.
"Für mich ist die Weltgeschichte die Geschichte von Menschen, die anderen Personen ihr Vertrauen schenken und damit zu schrecklichen Dingen verleitet oder schlicht getäuscht werden. Doch du kannst nicht getäuscht werden, solange du dich nicht selbst täuschst."

Martin Heidegger
Martin Heidegger© imago / United Archives International
Immer wieder Aufregung um Martin Heidegger
Von Täuschung und Enttäuschung ist auch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die Rede, und zwar anlässlich der fortdauernden Aufregung über Martin Heidegger, den Freiburger Philosophen und antisemitischen Nazi-Apologeten, über den Rüdiger Safranski sein jüngstes Buch geschrieben hat und im SZ-Interview darüber ausführlich Auskunft gibt.
"Heidegger gehört 1933 ganz einfach zum intellektuellen Mob", so Safranskis freimütiges Urteil, "das heißt zu dem Teil der geistigen Elite in Deutschland, dem zu Hitler etwas Erhabenes einfiel".
Seine jüngst publizierten Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis '48,
"so langweilig sie auch bisweilen sind, gewähren höchst spannenden Einblick in den Vorgang der Selbstmystifikation auf der inneren Bühne des Denkens. Wir können hier ziemlich genau verfolgen, was Heidegger aus sich selbst macht und wie er sich mit sich selbst verwechselt."
Keine Täuschung, aber eine um so wundersamere Geschichte tischt uns indessen die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG zu guter Letzt auf. In Berlin wird dieser Tage ein Manuskript von Ödön von Horvath versteigert.
"Niemand kannte den Inhalt dieses Stücks", berichtet Hubert Spiegel, "niemand wusste von seiner Existenz, und bis heute vermag niemand zu sagen, warum ein vollständig erhaltenes Theaterstück eines der meistgespielten Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts nie publiziert, nie aufgeführt wurde und vollkommen in Vergessenheit geriet. Nichts wissen wir über die näheren Umstände der Entstehung, nichts über die Pläne und Absichten, die Ödön von Horváth und sein Verlag verfolgten."
Das Schönste aber an diesem Rätsel ist der Titel des geheimnisumwitterten Dramas: "Niemand". Niemand wird sich davon nicht hinreißen lassen, der nicht empfindungslos ist.