Aus den Feuilletons

Kritiker schwärmen von Otoos Frühstücksei

Die Autorin Sharon Dodua Otoo reagiert auf den Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises.
Die Autorin Sharon Dodua Otoo reagiert auf den Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises. © dpa / picture alliance / Susanne Hassler
Von Tobias Wenzel · 03.07.2016
Richard Kämmerlings erwartet in der "Welt" noch "Großes" von der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo und ihrer Geschichte über ein Frühstücksei. Auch andere Kritiker schwärmen. Nur eine Tageszeitung hält dagegen.
"Wer will schon ein Ei sein? Nicht wirklich rund, nicht wirklich stabil, nicht wirklich attraktiv", zitiert die TAZ aus dem Text, mit dem Sharon Dodua Otoo den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat.
"Daraus wird etwas Großes werden", prophezeit Richard Kämmerlings in der WELT mit Blick auf die Autorin und fasst die Erzählung so zusammen:
"Aus dem klischeehaften Streit über den idealen Härtegrad des Frühstückseis entwickelt sich zu allgemeiner Verblüffung ein historisches Panorama zwischen Kriegsende und Kohl-Ära und eine mythische Erzählung vom Anfang und Ende des Lebens. Das Ei übernimmt selbst die Verantwortung für das eigene trotzige Weichbleiben und die Erzählerrolle gleich dazu."
"Vielleicht muss man in London geboren sein und in Berlin leben, um mit so viel erzählerischem Witz und scharfem Blick die deutsche Geschichte noch einmal in völlig neuer Travestie hervorzubringen", vermutet Roman Bucheli in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über Sharon Dodua Otoo.

"Nicht herausragend, nicht witzig und cool"

"Ja, das ist gut gemacht, sprachlich aber nicht herausragend – und nicht witzig und cool, wie die Jury fand", hält Gerrit Bartels im TAGESSPIEGEL als einziger dagegen. "Mit Deutsch als Fremdsprache geht es doch auch", bemerkt Tilman Spreckelsen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
Allerdings reichte der Jury das gebrochene Deutsch des Israeli Tomer Gardi wohl nicht. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG verteidigt Kathleen Hildebrand vehement den ihrer Meinung nach "warmherzigen" Text "in der Sprache (…), die Einwanderer und Flüchtlinge nach einer Weile im Land zu sprechen" lernten, und erzählt, wie unwohl sie sich während der Jury-Diskussion über diesen Text und Autor fühlte. Sie habe wegschauen müssen:
"Aber was sieht man da? Seidenschalträgerinnen, alte Männer in beigen Outdoor-Westen und junge Männer, langbeinig und langhaarig, die in ihre Notizbücher Wörter wie 'Zeitgenossenschaft' schreiben. Alle weiß, alle privilegiert. Ein bisschen Diversifizierung, etwas mehr von der wilden, bunten, gefährdeten Wirklichkeit täte dieser Veranstaltung sehr gut."

"Die größte persönliche Niederlage"

Dem deutsch-russischen Verhältnis tut sicher nicht die Gründung des russischen Instituts "Dialog der Zivilisationen" in Berlin gut, liest man aus Karl Schlögels Artikel "Alle diese Putin-Fans" für die WELT heraus.
"Dass ausgerechnet Berlin, das russische Berlin, an dem die deutsch-russischen Verwicklungen im 'Jahrhundert der Extreme' so sichtbar sind wie an kaum einem anderen Ort, zur Bühne wird, auf der ein einstiger KGB-Chef den Ton in einem 'Dialog der Zivilisationen' angeben soll, ist für mich, nach Putins Angriff auf die Ukraine, die größte persönliche Niederlage in meinem Leben – wissenschaftlich und politisch", schreibt der Russlandhistoriker.
Er ist entsetzt darüber, dass sich die Deutschen, darunter Politiker und beleidigte Bürger, "aus falsch verstandener Sympathie" sowie "aus Feigheit oder Geltungssucht" der "russischen Weltsicht" ergäben: "eine Linke, die sich gern auf Liebknecht und Luxemburg beruft, aber den Warlords im Donbass Schützenhilfe leistet und an den russischen Bomben in Aleppo nichts auszusetzen hat; eine Pegida, die in Dresden Plakate mit 'Putin, rette uns' mitführt und die Putins schwarze Nachtwolf-Motorradtruppe willkommen heißt."

Zum Schluss etwas Poetologie

So bitter sollte man nicht enden. Drum zum Schluss noch etwas Poesie. Genauer: Poetologie. Der TAGESSPIEGEL zitiert den mit 93 gestorbenen französischen Dichter Yves Bonnefoy:
"Die Poesie ist ein Versuch, der Wirklichkeit auf nichtbegriffliche Weise zu begegnen. Mit ihren Wörtern trachtet sie danach, den direkten Bezug zur benannten Sache zu beleben, damit diese von ihrer begrifflichen Einkerkerung befreiten Gegenwarten für uns einen vollständiger bewohnbaren Ort ergeben."
Mehr zum Thema