Aus den Feuilletons

Kosmisches von der Autobahn

Die Band Kraftwerk am 06.01.2015 in Berlin in der Neuen Nationalgalerie
Die Band Kraftwerk am 06.01.2015 in Berlin in der Neuen Nationalgalerie © picture alliance / dpa / Foto: Jens Kalaene
Von Gregor Sander · 07.01.2015
Die Elektropop-Pioniere "Kraftwerk" spielen an acht Abenden ihre wichtigsten Alben in der Berliner Neuen Nationalgalerie und verzaubern wie eh und je ihre Fans. Die "taz" wähnt sich bei dem synthetischen Klangspektakel gar in anderen Sphären.
"Die literarische Unschuld und die Lust am Roman waren von kurzer Dauer."
Mit dieser Feststellung beginnt Jürg Altwegg in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG seine Besprechung von Michel Houellebecqs Romans "Unterwerfung". Darin wird im Jahr 2022 ein muslimischer Politiker mit Hilfe der Sozialisten und der Konservativen zum Präsidenten gewählt, um Marine Le Pens Einzug in den Élysée-Palast zu verhindern.
Frankreich wird langsam islamisiert. Soweit die Fiktion, aber am Tag des Erscheinens fielen die tödlichen Schüsse auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" in Paris. Auf dessen aktuellen Titelbild ist der französische Autor abgebildet. Jürg Altwegg erinnert in der FAZ an einen früheren Roman Houllebecqs:
"In 'Plattform' überfliegt sein Held Afghanistan, es ist tiefe Nacht und kein Land in Sicht: Die Taliban haben sich zur Ruhe gelegt und schmoren in ihrem Dreck. Wer die Taliban sind, wussten beim Erscheinen des Romans nur wenige: Es war ein paar Wochen vor dem 11.September. Der Sex-Tourist ist auf dem Weg nach Thailand in den Ferienklub Aphrodite – in dem islamische Terroristen ein Blutbad anrichten. Sein Remake in der Wirklichkeit fand im Jahr danach in Bali statt, wie im Roman lief es ab – seither steht Houellebecq im Ruf, ein Visionär zu sein."
Jürgen Ritte von der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG ist trotz allem um Beruhigung bemüht:
"Es handelt sich bei Houellebecqs Zukunftsvision um – angesichts der gegenwärtigen Hysterie vielleicht ratsam, daran zu erinnern – Literatur. Um eine politische Parabel, die von Überzeichnungen lebt. Houellebecq entwirft die Islamisierung des Landes nicht als finsteres Bedrohungsszenario."
Und im Berliner TAGESSPIEGEL stellt Gregor Dotzauer fest:
"'Unterwerfung' lebt ohnehin nicht im geringsten von der Paranoia islamfeindlicher Wutbürger, sondern von der klarsichtigen Abscheu vor einem ökonomisch, politisch und spirituell erschöpften gegenwärtigen Frankreich, das sich zumal auf der Linken in billigen, aus dem alten Lagerdenken gewonnenen Reflexen ergeht."
Doch das alles wird nun in einem anderen Licht gelesen werden, resümiert auch Dotzauer:
"Die Wirklichkeit des 7. Januar 2015 hat die Weissagungen des Magiers Houellebecq, die 'prédictions du mage', die das Pariser Satiremagazin 'Charlie Hebdo' auf ihrem aktuellen Titel ankündigt, nun auf entsetzliche Weise überholt."
"Kraftwerk" in Berlin
In der Neuen Nationalgalerie in Berlin spielen die Elektropop-Pioniere von "Kraftwerk" gerade an acht aufeinanderfolgenden Abenden ihre acht wichtigsten Alben vor. Für Julian Weber von der TAZ ein kosmisches Ereignis:
"Als sich der Vorhang in der Neuen Nationalgalerie Berlin am Dienstagabend um 20.00 Uhr öffnet - auf die Sekunde pünktlich - und die vier Künstler von Kraftwerk auf der Bühne sichtbar werden, während Ralf Hütters Stimme schon in den Minuten zuvor in einer Art Roboter-Countdown zu hören war, wirkt es so, als teile sich der Raum der rundum verglasten Halle und einzelne Komplexe flögen ins All."
Trotz aller Begeisterung für das 40 Jahre alte Album "Autobahn" stellt Annett Scheffel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG fest:
"Das Absurde an diesem Abend in Berlin: Damals entlockten sie die flirrenden, auf und abschwellenden Töne mühevoll den kompliziert verkabelten Geräten, die Synthesizer Anfang der Siebzigerjahre noch waren. Heute können sie von jedermann erzeugt werden, notfalls mit winzigen Mobiltelefonen."
Während "Kraftwerk" also immer noch in aller Ohren ist, macht sich die BERLINER ZEITUNG Sorgen um Elvis, der an diesem Donnerstag 80 Jahre alt geworden wäre. Es ist ein trauriges Geburtstagslied für den King, das Frank Junghähnel singt:
"Elvis ist toter denn je. Im Radio ist seine Stimme nicht mehr oft zu hören, allenfalls läuft auf einem Oldie-Sender mal 'In the Ghetto'."
Wer stattdessen gespielt wird, verrät eine kurze Meldung direkt neben Elvis in der BERLINER ZEITUNG:
"Helene Fischer hat Hit und Album des Jahres 2014."
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