Aus den Feuilletons

In den Abgründen des David Lynch

US-Regisseur David Lynch vor Bildern prominenter Zeitgenossen, die Karl Lagerfeld schuf.
US-Regisseur David Lynch vor Bildern prominenter Zeitgenossen, die Karl Lagerfeld schuf. © dpa/ picture-alliance/ Olivier Corsan
Von Tobias Wenzel · 19.01.2016
Die Feuilletons gratulieren David Lynch zum 70. Geburtstag und versuchen sein Werk in Worte zu fassen. "Unheimlich" und "unergründlich" sind die beiden Worte, die ihnen einfallen. Lynchs Werk reizt viele im doppelten Sinn.
"Modeln ist alles andere als ein Traumberuf. Es sei denn, man ist Soziopath und findet manipulatives Verhalten oder obsessive Oberflächlichkeit unterhaltsam."
Schreibt Julia Jasinski in ihrem Erfahrungsbericht im Feuilleton-Aufmacher der WELT, anlässlich der Berlin Fashion Week. Es ist eine erfrischend gnadenlose Abrechnung:
"Einmal rief mich mein Agent an und sagte, Valentino sei an mir interessiert. Ob ich mich vielleicht über das Wochenende ausnahmsweise nur von Wasser ernähren könne?"
Hatte Michel Tournier den Nobelpreis mehr verdient als Patrick Modiano?
Mit Wasser verband der nun mit 91 Jahren bei Paris gestorbene französische Schriftsteller Michel Tournier offensichtlich etwas Positives. "Im Gehen wollte er sterben, möglichst auf einem Gang ins offene Meer hinaus", schreibt Jürg Altwegg in seinem Nachruf für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, behauptet, Tournier hätte den Nobelpreis mehr verdient gehabt als seine Landsleute Claude Simon und Patrick Modiano, und kommt dann auf Tourniers Hauptwerk zu sprechen:
"'Der Erlkönig' ist ein großer Roman über den Nationalsozialismus, dem Jean Améry zu Unrecht eine 'Ästhetisierung der Barbarei' vorgeworfen hatte."
Kritischer sieht das Thomas Laux. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG schreibt er: "Mit dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entsteht hier ein groteskes Deutschlandbild, eins, das zwar erkennbar mit den nationalen Klischees spielt, sie aber nolens volens eher bestätigt als aufhebt."
Einig sind sich die Literaturkritiker dann aber in einem Punkt: Michel Tournier, der Germanistensohn, liebte Deutschland. Und nicht nur das, erfährt man von Tilman Krause in der WELT: "Er liebte die DDR." Und noch mehr DDR-Sportlerinnen.*
Eine DDR-Sportlerin soll auch die Hauptfigur seines letzten großen Romans sein. Der bleibt nun aber mit dem Tod Tourniers unvollendet. Joseph Hanimann, den Tourniers Spiel mit "Possen und Attitüden" verwirrte, sieht selbst im Tod des Autors einen Vorteil: "Aus dem Jenseits wird er vielleicht etwas fassbarer werden", schreibt der Kritiker in der SÜDDEUTSCHEN.
NZZ: Lynch blies zum "Frontalangriff auf den Realismus"
Und wie soll man David Lynch zu seinem 70. Geburtstag fassen, in Worte fassen? Der TAGESSPIEGEL versucht es mit der Überschrift "Der Unergründliche". In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG nennt Tim Slagman den amerikanischen Filmregisseur einen "Träumer in den dunklen Ecken der Erkenntnis". Lynch habe 1986 mit seinem Film "Blue Velvet" "die nach aussen hin so makellose und im Kern so abgrundtief verrottete Topografie von 'Lynchtown'" entworfen:
"Gleichzeitig blies Lynch [ ... ] mit seinem Kino zum Frontalangriff auf den Realismus, stürzte sich in ein grellbuntes, bewusst obszönes Wiederholungsspiel mit den Zeichen der Wirklichkeit [ ... ]." Das zeigte Wirkung, unter anderem bei Andreas Kilb. In der FAZ schreibt er: "Unter all den Regisseuren, die das Kino in den vergangenen fünfzig Jahren geprägt haben, ist Lynch der unheimlichste."
Unheimlich ist dem indischen Schriftsteller Kiran Nagarkar sein Premierminister Narendra Modi. Dessen "hindunationalistische Partei" blase nämlich "zum Kampf gegen Andersgläubige, Intellektuelle und die Meinungsfreiheit". Es geht unter anderem um Morde an Schriftstellern, die im Sinne der Aufklärung gegen Aberglauben argumentiert haben. Der Premierminister habe dazu geschwiegen und könne selbst nicht zwischen Glauben und Wissenschaft unterscheiden.
So habe er behauptet, in Indien sei schon vor 2000 Jahren Stammzellenforschung betrieben worden. "Als Beweis führte er Ganesha an, die Gottheit mit dem Elefantenkopf und dem Körper in Menschengestalt", schreibt Kiran Nagarkar in der SZ, um dann zu betonen: "Nein, er meinte das nicht als Scherz."

* In einer früheren Fassung dieser Kulturpresseschau hieß an dieser Stelle unter wörtlicher Wiedergabe aus der Berichterstattung der WELT zum Tod von Michel Tournier: "Katharina Witt, die berühmte Eiskunstläuferin, war seine Favoritin, immer wieder traf er sich mit ihr."
Hierzu stellt Katarina Witt fest: "Ich habe mich nicht mit Michel Tournier getroffen. Ich kannte ihn persönlich nicht."
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