Aus den Feuilletons

Heimatlos in der Türkei

Drei Frauen halten Porträts von Staatsgründer Atatürk in die Luft.
Drei Frauen halten Porträts von Staatsgründer Atatürk in die Luft © picture-alliance / dpa / Sedat Suna
Von Adelheid Wedel · 06.01.2017
Sie sehen ihre Selbstbestimmung in Gefahr. Immer mehr fortschrittliche, säkulare Türkinnen hadern mit ihrer Heimat und planen die Flucht. In der "Neuen Zürcher Zeitung" kommen zwei von ihnen zu Wort.
"Theater ist ein ideales Medium zur Integration."
Diese Behauptung, erneut erfolgreich erprobt in Bremen, könnte nun in den Reigen jüngster Erkenntnisse zum Thema Flüchtlinge aufgenommen werden. Die Tageszeitung TAZ berichtet engagiert vom internationalen Theaterfestival "Kultur on Tour", das bereits zum 5. Mal stattfindet und eben jene These aufs Beste untermauert. Die Organisatorin des Festivals,
"Kira Petrov, kam selbst als 14-Jährige aus Russland."
Jetzt leitet sie das Theaterereignis, zu dem sieben Jugend- und Studententheatergruppen eingeladen wurden, ausgewählt aus 16 Bewerbern. Teilnahmebedingung war:
"Die künstlerische Arbeit soll eine mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen oder mit Geflüchteten sein."
Petrov sagt dazu: "Wir bieten den Teilnehmern die Chance, etwas von der Welt zu sehen, Kontakte zu knüpfen und sich selbst zu präsentieren."
Kira Petrov ist nun Intendantin des "Theaters 11", "bestehend fast ausschließlich aus Menschen mit Migrationshintergrund. Gespielt wird zumeist in Deutsch."
Nach Jahren mit Start-up-Finanzierung der Aktion Mensch folgen für das Theater nun neue Schritte in die Unabhängigkeit, eine Bremer Stiftung hat dem Ensemble Raum gegeben, der zu einem Kulturzentrum ausgebaut werden kann. Kira Petrov ist Feuer und Flamme, sie sagt:
"Das soll ein Glanzpunkt für den Stadtteil werden."
Sieht nach einer echten Win-Win-Situation aus.
In der Hoffnung, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, brechen derzeit Menschen rund um den Globus auf. Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG berichtet am Beispiel von zwei jungen Frauen aus der Türkei über diese Tendenz. Veronika Hartmann zieht Bilanz ihrer Recherche und meint:
"Immer mehr fortschrittliche, säkulare Türkinnen sehen für sich keine Zukunft mehr in ihrer Heimat (…). Sie fürchten, dass sich die Rolle der Frau jetzt nicht mehr an modernen, westlichen Vorbildern orientieren, sondern im Rahmen der von der türkischen Regierung gepflegten neo-osmanischen Ideologie an religiös-konservativen Vorstellungen ausgerichtet werden soll."
Die Journalistin Deniz U. gibt zu Protokoll: "Wenn es nur um mich ginge, würde ich bleiben und kämpfen. Aber ich habe eine Tochter, und die hat es verdient, frei und selbstbestimmt aufzuwachsen."
Der Blick in die Zukunft. Die beiden in London lebenden Autoren Nick Srnicek und Alex Williams wagten ihn und schrieben auf, was sie sich dazu ausdachten.
"Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit",
so nannten sie ihr Buch, dem die Tageszeitung TAZ eine ganze Zeitungsseite widmet. Philipp Rhensius stellte den Autoren Fragen.
"Der Neoliberalismus funktioniert nicht", sagen sie.
Und: "Grundsätzlich benötigen wir eine linke Idee, die Menschen erreicht und mobilisiert. Kleinteilige technokratische Reformen werden nicht helfen, es braucht eine Alternative zu Trumps scheinheiligen Sicherheits- und Komfortversprechen. Trumps 'Make America great again' schmachtet nach einer verlorenen Vergangenheit, nicht nach einer neuen Zukunft."
Die weltweit politischen Verschiebungen nach rechts sehen die beiden Autoren gelassen. Sie meinen:
"Die immer mehr an Macht gewinnenden autoritären Rechten haben keine Antworten auf die drei größten Bedrohungen für die Welt: Klimawandel, Automation, globale Migration. Wir stehen heute nicht einer neuen rechten Weltordnung gegenüber, sondern einer globalen hegemonialen Krise, dem Sterbebett des Neokolonialismus."
Die Antworten der beiden Buchautoren sind teilweise so theorie-lastig, dass man beim Weiterblättern des Zeitungsstapels und dem Überfliegen der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG froh beim Artikel über die amerikanische Ratgeber-Kolumne "Ask Polly" vom New York Magazine hängenbleibt. Folgender Satz lässt erleichtert aufatmen:
"Diese Kolumne ist so gut, dass man sich nach dem Lesen selbst dann besser fühlt, wenn es einem vorher nicht schlecht ging. "
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