Aus den Feuilletons

"Großbritannien wird aufblühen"

Britische Fahnen wehen in London.
Brexit Entscheidung - Situation in London © dpa / Michael Kappeler
Von Arno Orzessek  · 25.06.2016
Bestürzung über das Brexit-Votum bestimmt die Meinungsseiten der deutschen Zeitungen. Der britische Bestseller-Autor Matt Ridley zeigt sich in der "SZ" allerdings frohen Mutes.
"We’re really, really fucked", titelt – gewohnt sprachsensibel – die TAGESZEITUNG nach dem Brexit-Votum. Autor Christian Werthschulte schildert, wie britische Popmusiker auf den Brexit reagieren.
"'Niemand hat je behauptet, dass die Mehrheit weiß, was sie tut', schrieb Smith-Gitarrist Johnny Marr auf Twitter. Umso mehr müsse der Rest jetzt zusammenhalten. 'Angst und Hass haben gewonnen. Wir alle haben verloren', meinte der Techno-Produzent Surgeon. Ed Simons von den Chemical Brothers gestand: 'Ich kann das nicht verarbeiten.' Die Abstimmung war knapp, aber unter den britischen Popmusikern war das Ergebnis eindeutig: Sie lehnen den Ausstieg aus der EU ab",
resümiert der TAZ-Autor Werthschulte.

"Die EU verhindert Innovation"

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG tut mit Blick auf den Brexit das, was sie auch gern bei prominenten Todesfällen macht: Sie lässt verschiedene Literaten, Künstler und Wissenschaftler kurz zu Wort kommen – übrigens ausschließlich Männer.
Erwartungsgemäß dominieren in der SZ die betrübten Stimmen. Wir aber zitieren zunächst den frohgemuten Bestsellerautor Matt Ridley, Mitglied des House of Lords.
"Großbritannien wird aufblühen. Europas Bruttosozialprodukt hat sich erst jetzt auf den Stand von vor der Finanzkrise zurückgeackert. Eben weil die Besessenheit, mit der die EU Währungen und Regeln harmonisiert, Innovation verhindert. So wurden wir in der digitalen Technologie abgehängt. In Europa gibt es keine Firmen, die es mit Amazon, Google, Apple und Facebook aufnehmen können",
meint der austrittsbegeisterte Matt Ridley.

Votum gegen Brüssel, nicht gegen Deutschland

Der Soziologe Richard Sennett nimmt derweil die Deutschen in Schutz.
"Das war ein Votum gegen Brüssel, nicht gegen Berlin – das sollten die Deutschen bedenken. Niemand im Pro-Brexit-Lager hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beschworen. Ihr Land wird beneidet, nicht gefürchtet. Der große Fehler derjenigen, die für den Verbleib in der EU eintraten, war, dass sie den Wählern gesagt haben: Fürchtet Euch! Während die Austrittsanhänger anführten: Sei unabhängig! Die schlimmen Folgen werden die jungen Leute ausbaden müssen",
prophezeit Richard Sennnet in der SZ.
In der Tageszeitung DIE WELT liest der Großbritannien-Verehrer Wieland Freund den EU-müden Briten rüde die Leviten.
"Geradezu unverzeihlich […] ist es, auf eine Kampagne hereinzufallen, die – 'Take back control' – die Zurückgewinnung von Kontrolle verspricht. Kontrolle? Eines Landes? In Zeiten der Globalisierung? Kontrolle? Des Einzelnen? Über sein Leben? Ebenso gut hätte man dem Menschen das Ende seiner Geworfenheit versprechen können oder die Unsterblichkeit. […] Die Mehrheit der Briten hat, das ist das himmelschreiende Elend, am 23. Juni gegen sich selber gestimmt. Gegen ihre Tradition, gegen ihre Kultur."

"Wo sind unsere aufklärerischen, christlichen Werte?"

Nicht weniger entsetzt, entmutigt und enttäuscht zeigt sich im Berliner TAGESSPIEGEL Martin Roth, der in London das Victoria & Albert Museum leitet.
"Man muss sich doch fragen: 'Wo sind unsere aufklärerischen, christlichen Werte? Wo ist die Nächstenliebe, die Solidarität?' Diese Aggressivität wie jetzt im britischen Wahlkampf erleben wir in Bayern, in Sachsen, bei der AfD, bei den Rechtspopulisten und Europa-Gegnern in den Niederlanden und in Frankreich. Bildung zählt nicht mehr. Was soll das? Ich komme aus ganz einfachen Verhältnissen. Warum hat man Menschen wie mich ausgebildet, wenn man jetzt gegen Experten und Eliten vorgeht?",
grübelt im Berliner TAGESSPIEGEL der verzweifelte Martin Roth, der wie viele andere europäische Kosmopoliten offenbar wenig Einfühlungsvermögen in die einfachen Leute hat, die es nicht zum Chef des Victoria & Albert Museum gebracht haben.
Horribile dictu…
Aber wenn nicht alles täuscht, ist das Eliten-Projekt EU mit dem Verfahren der Demokratie, in der auch Hinz und Kunz eine Stimme haben, immer schwerer zu vereinbaren.
Womöglich wird sich Europa an den Morgen-Ritus gewöhnen müssen, der in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Überschrift wurde:
Das "Erwachen im Scherbenhaufen."