Aus den Feuilletons

"Gegen das Theatertreffen ist Europa ein Tag der offenen Tür"

Die Schauspielerin Thelma Buabeng bei der Probe zum Theaterstück "Die Schutzbefohlenen", inszeniert von Nicolas Stemann
Auf der Bühne zeigte sich die Heterogenität der Gesellschaft - im Publikum dagegen kaum. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Hans von Trotha · 18.05.2015
Das Theatertreffen ist vorbei und die Bilanz in der Presse fällt ernüchternd aus. Die "SZ" befürchtet, das Theater verkomme zur Volkshochschule. Und die "NZZ" sah eine Bühnenkunst, die nicht mehr weiß, was sie soll.
Selten bekommen wir in den Feuilletons so viele Geschichten vom Geschichtenerzählen erzählt wie im Mai, wenn sich die Kielwasser der Filmfestspiele von Cannes und das Berliner Theatertreffens kreuzen. Da kann einem schon schwindelig werden, weil man ja nicht dabei ist und nicht immer gleich weiß, was da jetzt Film ist, was Theater und was echt.
Während Jan Schulz-Ojala im TAGESSPIEGEL meint, "Cannes-Chef Thierry Frémaux (sei) genervt von der stets pünktlich zum Festivalstart neu entflammenden Gender-Debatte", berichtet Cristina Nord für die TAZ ausnahmsweise aus dem siebten Stock des Majestic-Barrière-Hotels direkt an der Croisette. Klingt cooler als es ist, denn Cristina Nord hat natürlich einen Auftrag:
"Ich befinde mich in der Suite", entschuldigt sie sich, "weil die Kering-Gruppe, zu der unter anderem Gucci gehört, und die ein neuer Sponsor des Festivals ist, eine Initiative lanciert hat, die der gerade in Cannes notorischen Unterrepräsentation weiblicher Filmschaffender trotzen möchte. 'Women in Motion' heißt diese Initiative, zu Gast ist die Regisseurin Claire Denis, und außer mir sind noch etwa 35 andere Neugierige gekommen, die meisten von ihnen Frauen."
Ein Umstand, der Nord nach einigen Umwegen die Frage stellen lässt:
"Wäre es nicht mal an der Zeit für ein Selbstreflexionsprogramm namens 'Men in Motion', in dem Regisseure sich damit auseinandersetzen, warum sie so oft unter sich bleiben?"
Stückemarkt: "Läppisch, achtlos oder blutleer"
Unter sich bleiben sie anscheinend auch beim Theatertreffen.
"Wenn man sich im Publikum umsieht", ätzt Jan Küveler in der WELT, "entdeckt man nur Schauspieler, Schriftsteller, Feuilletonisten und andere Berliner Kulturbetriebsprominenz. Gegen das Theatertreffen ist Europa ein Tag der offenen Tür."
"Eine leicht verschnupfte Bilanz", heißt Küvelers Stück auf dem Stückemarkt der Theaterkritiker. Gemeint ist nur in zweiter Linie die verstopfte Nase:
"Zwei, drei der zehn Abende waren ganz gut, die anderen waren ärgerlich, überflüssig, albern, läppisch, achtlos oder blutleer."
Dem kann man immerhin nicht vorwerfen, es sei unentschieden oder abstrakt wie Katrin Bettina Müllers TAZ-Fazit einer "Ausgabe des Theatertreffens, die gerade dort, wo es politische Aktualität für sich beanspruchen konnte, oft die Frage aufrief, wer für wen sprechen kann".
"Fast alle", meint Mounia Meiborg in der SÜDDEUTSCHEN, "wollen in diesem Jahr politisch sein. Und stoßen dabei oft auch an Grenzen." – "Aber", fragt sie, "was kommt jetzt? Wird Theater zu der moralischen Anstalt, von der Schiller träumte? Zur Volkshochschule? Zur Bundeszentrale für politische Bildung?" – Die Frau versteht etwas von Steigerung.
Schreddermaschine als Lieblingsmetapher
Christine Wahl diagnostiziert im TAGESSPIEGEL dem Theatertreffen "Dekonstruktionsarbeit am westlichen Selbstverständnis". Sie ist nicht die Einzige, deren Liebling in diesem Jahr eine Schreddermaschine gewesen ist.
In einem der Stücke, beschreibt Wahl, "waren sie beherzt zur Schredderung ihres eigenen Bühnenbildes geschritten. Und wie diese Sperrholzbretter, die ja sprichwörtlich die Welt bedeuten sollen, in einen gigantischen Häcksler wanderten – das ist womöglich das Bild überhaupt für das diesjährige Theatertreffen!"
Dirk Pilz meint in der NZZ:
"Man will über die Bühnengrenzen hinaus und weiß offenkundig weniger denn je, wasdie Bühnenkunst sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Grenzen soll."
Und wird das bald wohl noch viel weniger wissen. Wenn nämlich das Erzählen ganz aufhört und nur noch gilt: "Der Raum ist die Geschichte". Dass es so kommt, erklärt im SÜDDEUTSCHE-Interview Mark Bolas. Der, lernen wir, "hat mehr Zeit in Virtuellen Realitäten verbracht als alle Menschen der Welt zusammen". Er leitet nämlich ein "Institut für Kreative Technologien" und ein "Labor für Gemischte Realitäten." Und die sind im Gegensatz zum Realitätenhäcksler auf dem Theatertreffen keine Metaphern, die gibt es an der University of Southern California wirklich.
"In einer virtuellen Welt", erläutert Professor Bolas, "entscheidet der Betrachter, wohin er schaut. Damit kann man keine lineare Geschichte mehr erzählen. … Der Raum ist die Geschichte. Andererseits reagiert der Betrachter auf das, was ihm dort begegnet. Das kann sogar zu Unfällen führen, da die reale und virtuelle Welt ja nicht identisch ist."
Das erkennen wir dann hoffentlich bald wieder besser, wenn die ganzen Festivals vorbei und die letzten Illusionen geschreddert sind.
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