Aus den Feuilletons

Flüchtlingsland in Kalifornien - oder in Brandenburg?

Drei minderjährige Jungen hocken auf einem Absperrgitter.
Asylsuchende Kinder aus Afghanistan warten am Bahnhof in München auf ihre Registrierung. © dpa / Matthias Balk
Von Tobias Wenzel · 12.09.2015
Die deutsche Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen hatte die Feuilletons in der vergangenen Woche thematisch voll im Griff. Bis hin zur Frage: Wo sollen die Menschen hin? Ein kalifornischer Millionär schlägt in der "FAS" die Gründung einer eigenen Nation vor - in Kalifornien.
Herzlich willkommen zu dieser Kulturpresseschau! Hereinspaziert! Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? (Selbst der misanthropischste Zeitungsvorkoster muss einfach die Arme öffnen nach einer solchen Feuilletonwoche der Gastfreundschaft.)
Volker Weidermann bekam von seinem Gastgeber, dem norwegischen Schriftsteller Kal Ove Knausgård, Kaffee angeboten. Am liebsten hätte Knausgård, der Interviews hasst, den Mann vom SPIEGEL wohl gar nicht in sein Haus in Südschweden gelassen. Aber abgemacht ist abgemacht. Und Gastfreundschaft ist Gastfreundschaft. Noch absurder erschien die Situation, wenn man las, dass Weidermann selbst seinen Besuch in Frage stellte: "Es ist eigentlich ein lächerliches Unterfangen, Karl Ove Knausgård zu interviewen. Er hat alles, wirklich alles in seine Bücher hineingeschrieben", schrieb wiederum Weidermann und meinte das sechsbändige autobiographische Werk des Autors. Band fünf erscheint nun unter dem Titel "Träumen" auf Deutsch. Weidermann zitierte die britische Autorin Zadie Smith, die geradezu süchtig nach der radikalen Knausgård-Autobiographie sei: "Ich brauche den nächsten Band wie Crack."
Die Wirklichkeit sei eine erbärmliche Schriftstellerin, sagte der spanische Autor Javier Marías in seiner Rede, mit der er das Internationale Literaturfestival in Berlin eröffnete. Knausgård-Fans dürften da wohl mit dem Kopf geschüttelt haben. Andreas Kilb schüttelte in der FAZ mit. Allerdings nicht, weil er an die Autobiographie des Norwegers als falsifizierendes Beispiel dachte, sondern an Marina Naprushkinas Veröffentlichung "Neue Heimat", ein hochaktuelles Buch voller Wirklichkeit, nämlich über eine Berliner "Initiative zur Betreuung von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen".
Rechtsradikale: viehische Abwürdigung der Menschheit
Die Flüchtlinge und die Frage der vorhandenen oder nicht vorhandenen Gastfreundschaft Europas und Deutschlands hatten die Feuilletons dieser Woche fest im Griff. Andere Berichte, wie die über das Filmfestival in Venedig, gerieten, irgendwie sympathisch, in den Hintergrund. Feridun Zaimoglu, deutscher Schriftsteller türkischer Herkunft, nahm in der FAZ Deutschland in Schutz gegen die Angriffe von Milosz Matuschek, einem Juristen mit polnischem Hintergrund. Der hatte in derselben Zeitung behauptet, die Deutschen besäßen keine Willkommenskultur. "Mich hat Deutschland bereichert", hielt nun Zaimoglu dagegen. "Und in meinem Land werden aus Gästen künftige Gastgeber."
Nun steht Aussage gegen Aussage. Da hilft nur eins: den alten Philosophen Kant anrufen. Also im übertragenen Sinn. Das tat Giannis Varoufakis für die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGZEITUNG, Tage zuvor schon die WELT und zuallererst die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Sie beriefen sich auf Kants Begriff der Vernunft und dessen Schrift "Zum ewigen Frieden". Der Philosoph Byung-Chul Han kritisierte in der WELT mit Kant all jene Europäer, die egoistische Interessen der Nationalstaaten über den Gedanken der (europäischen) Föderation stellten und den Flüchtlingen gegenüber feindselig seien:
"[B]ei den Rechtsradikalen, die nun die Flüchtlinge angreifen und ohne jede Scheu Gewalt anwenden, kommen gerade, so würde Kant sagen, die 'Rohigkeit, Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit' zum Vorschein."
Für Byung-chul Han ist Europa ein "Warenhaus", das, im Sinne Kants, zum "Gasthaus" werden müsse. Lothar Müller zitierte in der SZ Kants Definition der "Hospitalität" mit den Worten: "das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden". Gerade der Reiche, so Kant, müsse sich als großzügiger Mäzen erweisen. Und für Lothar Müller ist Deutschland zur Zeit dieser Reiche. Müller warnt mit Kant wiederum davor, sich mit Gastfreundschaft zu brüsten.
Sollen Flüchtlinge ein eigenes Land haben?
Sich brüsten wie die "Bild"-Zeitung, die so stolz darauf war, dass sie das Foto des ertrunkenen dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan abgedruckt hatte, dass sie mit einer, wie sie selbst dachte, originellen Aktion daran erinnern musste. "Eigenlob müffelt", schrieb dazu Joachim Huber im TAGESSPIEGEL. Die "Bild" hatte ihre Dienstagsausgabe ohne Fotos veröffentlicht und das so begründet: "Wir wollen damit zeigen, wie wichtig Fotos im Journalismus sind. Und dass es sich lohnt, jeden Tag um das beste Bild zu kämpfen." Danach verglich sich die Boulevardzeitung noch mit dem klagenden Chor der griechischen Tragödie. Das war dann zu viel für Joachim Huber. Sein Fazit zur bilderlosen "Bild": "Die Ausgabe vom 8. September ist eine Selbstfeier der selbst ernannten Sturmhaube der Pressefreiheit."
Von der "Bild" zur Gastfreundschaft verbietet sich eine Überleitung. Also ohne: Wo sollen die mehr oder weniger gastfreundlichen Deutschen die Flüchtlinge langfristig unterbringen? Dankwart Guratzsch fragte in der WELT: "Dürfen wir Plattenbauten noch abreißen?" Guratzsch war allerdings von seiner eigenen Idee, dort Flüchtlinge wohnen zu lassen, nicht wirklich überzeugt:
"Denn niemand will die Flüchtlinge in Gettos wegsperren. Welche verheerenden gesellschaftlichen Auswirkungen eine solche Form der 'Unterbringung' haben kann, zeigt die Banlieue von Paris."
Der kalifornische Millionär Jason Buzi hat dagegen keine Selbstzweifel. Im Interview mit der FAS fordert er "die Gründung einer eigenen Nation" der Flüchtlinge. Wo denn das neue Flüchtlingsland entstehen solle?, fragt die Zeitung. Und der Millionär antwortet: "Schauen wir uns Kalifornien an: Hier gibt es Milliarden Quadratmeter, die brach liegen."
Da könnte der deutsche Leser ins Grübeln kommen und denken: Brandenburg ist auch nicht gerade ein dicht besiedeltes Gebiet...
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