Aus den Feuilletons

Ein Plädoyer für Anarchie und Chaos

Ein europäisches Astronomenteam hat das bislang fernste kosmische Leuchtfeuer (künstlerische Dastellung) entdeckt.
Darstellung eines kosmischen Leuchtfeuers: Würde es die Menschheit ohne Zufall geben? © dpa / picture alliance / ESO/M. Kornmesser
Von Arno Orzessek · 07.09.2016
Wer "den Zufall mit digitalen Rechenmodellen ausschließt", ersticke Innovation, warnen zwei Forscher in der "SZ". Schließlich gebe es die Menschheit gar nicht, wenn die Natur vorhersehbare Algorithmen verwenden würde.
Jüngst haben wir einen runden Geburtstag gefeiert…
Und nun strahlt uns beim Aufblättern der Tageszeitung DIE WELT in sehr großen und sehr bunten Ziffern unser Geburtsjahr entgegen: "1966".
WELT-Autor Michael Pilz verehrt – übrigens erkennbar unabhängig vom Faktum unserer damaligen Geburt – annum '66 sehr und verdichtet seine Begeisterung in dem Jubel: "Die Welt, wie wir sie kennen, wird fünfzig Jahre alt."
Historisch gesehen, ist das keine sehr vertrauenswürdige These – Pilz geht’s indessen um Pop.
"Was meinen wir, wenn wir von westlicher Kultur und unserer Art zu leben reden? Seit wann gibt es das? Seit 1966, als das Populäre kunstvoll und politisch wurde: Glückwunsch, liebe Popkultur!"

Pseudo-Exaktheit: Pop wird 50

Damit auch die Jüngsten unter uns eine Ahnung vom Gemeinten bekommen, lesen wir mal kurz vor, was die WELT unter fünf Schwarz-Weiß-Fotos geschrieben hat:
"Vor 50 Jahren freakten Frank Zappas Mothers of Invention aus, die Beatles wurden mit 'Revolver' psychedelisch, die erste Folge von 'Raumschiff Enterprise' wurde gesendet, Michelangelo Antonioni hetzte einen Fotografen durch Swinging London, und Andy Warhol stellte eine Hausband für seine 'Factory' zusammen – sie hieß Velvet Underground."
Eine Briefmarke der Royal Mail zeigt das Cover des Beatles-Albums "Revolver". Es erschien 1966.
Eine Briefmarke der Royal Mail zeigt das Cover des Beatles-Albums "Revolver". Es erschien 1966.© picture alliance / dpa / Royal Mail
Dass Pop 50 Jahre alt wird, das trifft in dieser Pseudo-Exaktheit natürlich mindestens genauso zu wie die Beatles-These "We all live in a yellow submarine" – und darum unsere Empfehlung:
Lesen Sie das ganze Stück in der WELT! Aber nehmen Sie ja nicht jedes Wort ernst! Im Pop wird die Lizenz zur Übertreibung großzügig erteilt. –
Und nun ins akademische Milieu.

Plädoyer für Anarchie und Chaos

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG halten Carlo Ratti vom Massachusetts Institute of Technology und Dirk Helbing von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich "ein Plädoyer für Anarchie und Chaos im Leben der Menschen im digitalen Zeitalter".
Ratti und Helbing sind überzeugt: "Wer den Zufall mit digitalen Rechenmodellen ausschließt, erstickt Innovation und Demokratie im Keim."
Und nicht nur das! Die Forscher weisen darauf hin, dass es uns wohl gar nicht gäbe, wäre der Zufall immer schon so eliminiert worden, wie es heute die penetranten Rechenmaschinen versuchen.
Merke: "Hätte die Natur vorhersehbare Algorithmen verwendet, die zufällige Mutation bei der Vervielfachung von DNA verhindern, wäre der Planet vermutlich immer noch in einem Stadium von höchst optimierten Einzellern."

Berliner haben die Hoffnung aufgegeben

Nützlich dagegen wäre es gewesen, wenn Algorithmen jene minderbegabten Mehrzeller, die nahe Berlin einen funktionstüchtigen Flughafen zu errichten suchen, rechtzeitig in die richtige Spur gesetzt hätten. Haben sie aber nicht.
Ein Anlass für Moritz von Uslar, in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu fragen, warum das Desaster im Vorfeld der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus kaum eine Rolle spielt.
Wann wird er fertig? Der Flughafen BER Berlin Brandenburg im März 2016
Wann wird er fertig? Der Flughafen BER Berlin Brandenburg im März 2016© dpa/Revierfoto
Zwar bleibt von Uslar die Antwort schuldig, nicht aber folgende Beobachtung:
"Bei der Berliner Bevölkerung ist, was den Eröffnungstermin des Flughafens angeht, in den letzten Jahren ein erstaunlicher Gleichmut, eine schöne, weil tendenziell unagressive und amüsierte Nonchalance eingetreten: Man glaubt schlicht nicht mehr, dass der Flughafen in absehbarer Zeit eröffnet – genauer: Es macht mittlerweile mehr Spaß, über diesen seit Jahren immer wieder neu nicht eröffneten Flughafen Witze zu reißen, anstatt sich ernsthaft auf immer wieder neu angekündigte Eröffnungstermine einzustellen."

Oliver Stone: Clinton so gefährlich wie Trump

Über den US-amerikanischen Wahlkampf führt DIE ZEIT ein Gespräch mit dem Regisseur Oliver Stone – und der knöpft sich Hillary Clinton vor:
"Clinton wird amerikanische Präsidentin werden, weil Trump schlichtweg zu extrem ist. (…) Dennoch halte ich Clinton für genauso gefährlich. Sie ist eine Kriegerin. Und sie scheint keinerlei kritische Selbstwahrnehmung zu haben, was die Kriege angeht, die sie unterstützt hat."
Wir fürchten, Stone könnte recht behalten. -
Über jene eminente Frage, die in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Überschrift wurde, grübeln Sie nun bitte selbst nach. Sie lautet:
"Gibt es Menschenwürde ohne Champagner?"