Aus den Feuilletons

Drollige Kleidungsstile und Benimmregeln

Ein mit Holzmöbeln eingerichtetes Wohnzimmer.
Die FAZ singt ein Loblied auf die Tugenden des Bürgertums. © picture alliance / ZB / Patrick Pleul
Von Arno Orzessek · 25.11.2014
"Wir brauchen keine neue Bürgerlichkeit, schreibt Nils Minkmaar in der "FAZ", weil die alte noch gut genug sei. Ein Teil seiner Begründung steckt in einer immerhin 722 Zeichen langen Buchstaben-Anakonda.
"Geistig-moralische Wende, jetzt aber echt!" –
titelt spöttelnd und spottet titelnd die Tageszeitung DIE WELT
Und sobald man registriert, dass der Autor des Artikels Ulf Poschardt heißt, weiß man als halbwegs geübter WELT- und Poschardt-Leser:
Jetzt folgt eine kulturkritische Tirade, die sich mit speziellem Dünkel gegen das bedrohliche Riesenreich alles Un-Poschardt-igen wendet.
So auch dieses Mal:
"Die Intellektuellen des Juste Milieu haben in einer komplexer werdenden Wirklichkeit Räume definiert, in denen sie ihre alten Träume von Sozialismus, Internationalismus, Wasauchimmerismus ausleben wollen. In Universitäten, Teilen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den linksmöchtegernliberalen Medien, Kirchentagen, der staatlich subventionierten Kunst und Kultur. Aus Stadttheatern werden Kathedralen der Selbstgerechtigkeit, Kunstfestivals mutieren zu Ethikvorlesungen, und viel von der Gegenwartsliteratur liest sich wie ein anämischer Line-Extender gestriger Leitartikelrhetorik."
Armer Ulf Poschardt, was Sie alles erdulden und erleiden müssen! Hoffentlich haben Sie Schmerztabletten zur Hand!
Aber nun. Lassen wir das – zumal Poschardt nicht einmal in jedem Detail Unrecht hat...
Die Bürgerlichkeit als beste Hoffnung
Kommen wir zu einem weiteren Zeitgeist-Artikel.
"Wir brauchen keine neue Bürgerlichkeit, die alte ist noch gut genug",
behauptet Nils Minkmaar in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und erklärt stolz:
"Was Werbeagenturen auf der ganzen Welt als typisch europäischen Lebensstil abbilden, um Mode, Autos, Kosmetik oder Parfüm zu verkaufen, das sind im Wesentlichen Genreszenen europäischer Bürgerlichkeit."
Tja, das könnte man auch als vergiftetes Lob lesen – von wegen Bürgerlichkeit als globaler Konsum-Beschleuniger -, aber so meint es Minkmaar keineswegs.
Zum Beweis hier noch ein Satz aus dem FAZ-Artikel… Aber holen Sie tief Luft, liebe Hörer, wenn Sie den ganzen Satz in einem einzigen Atemzug anhören wollen:
"Durch das Prinzip der aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung, der Abstraktion von eigenen Interessen und privatem Nutzen im Namen von universellen Werten – man findet es richtig, Kunst, Wissenschaft, Sport- und Grünanlagen zu fördern, auch wenn man sie selbst gar nicht nutzt -, durch die Verbindung von privater Idiosynkrasie und öffentlicher Verantwortung und die Bereitschaft, unabhängig von Machtbeziehungen, Klientelismus und Korruption zu argumentieren und abzuwägen, ist das Bürgertum mit seinen mitunter drolligen Kleidungsstilen, Tischsitten und Benimmregeln, dessen diskreter Charme Luis Bunuel trotz allem faszinierte und dem er darum faszinierende Filme widmete, global gesehen, immer noch unsere beste Hoffnung."
Wissen Sie noch, wie der Satz anfing? Na prima! Wir nicht.
Die Wortschlange, ach was, diese Buchstaben-Anakonda aus der Tastatur Nils Minkmaars misst übrigens genau 722 Zeichen - ein Syntax-Exzess, den sich mal ein einfacher Praktikant im FAZ-Feuilleton erlauben sollte.
Im falschen Theater gelandet?
"Schlüpfrig, verklemmt, reaktionär" – bamm, bamm, bamm – urteilt in aller Klarheit die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Und zwar Katharina Thalbachs "Amphitryon" im Berliner Ensemble ab.
Wir verzichten auf die genaue Urteilsbegründung – hier nur Mounia Meiborgs nachträgliche Introspektion:
"Nach zwei Minuten ist man irritiert. Nach zehn Minuten fragt man sich, ob man im richtigen Theater gelandet ist. Und nach knapp zwei Stunden, die dieser Abend dauert, hat man Kopfschmerzen vor Wut."
Eben das, Kopfschmerzen vor Wut, hat womöglich auch Hannes Hartung, der Anwalt des verstorbenen Cornelius Gurlitt.
Hartung wettert in der WELT gegen die andernorts gefeierte Regelung, nach der die Kunstsammlung Gurlitts abzüglich etwaiger Raubkunst ans Kunstmuseum Bern geht.
"Im Jubelgeschrei der Medien vernimmt man, dass die Vereinbarung beispielhaft sei. Hierbei wird aber der entscheidende Punkt übersehen, dass das Kunstmuseum Bern nicht einen Cent für die Aufarbeitung (der Eigentumsfragen) bezahlen möchte und insbesondere keine Werke aus dem eigenen Bestand zurückgibt."
Soweit für heute. Während die SZ titelt "Mit Worten schweigen", tun wir’s ohne.