Aus den Feuilletons

Die Wonnen des Mangels

Eine komplette Kaufhalle samt Verkäuferinnenpuppe steht am 06.11.2014 in Radebeul (Sachsen) im 2006 eröffneten DDR-Museum "Zeitreise".
Eine komplette Kaufhalle samt Verkäuferinnenpuppe steht am 06.11.2014 in Radebeul (Sachsen) im 2006 eröffneten DDR-Museum "Zeitreise". © picture alliance/Matthias Hiekel/ZB
Von Ulrike Timm · 28.09.2015
Kurz vor dem 25-jährigen Jubiläum der deutschen Einheit erinnert nicht nur das Fernsehen an den Alltag in der DDR mit der Serie "Weissensee", sondern auch die Feuilletons. Die "Süddeutsche" macht sich auf Spurensuche nach dem DDR-Design.
"Igitt, eine Vierundzwanzigtausenddreihundertzwölf!"
"Wie riechen Zahlen?"
Das fragt ganz ernsthaft die TAZ. Und räumt eine komplette Seite frei, um uns so ausführlich wie leicht verschwurbelt zu erklären, dass wir allzu oft die Sinnlichkeit von Zahlen verdrängen, weil wir uns darauf verlassen, dass sie uns bloß abstrakt die Welt erklären, in Statistiken, Studien und Diagrammen.
Und wenn es Ihnen jetzt so geht wie mir, Ihnen eben jene Vierundzwanzigtausenddreihundertzwölf rein gar nix bedeutet, weder Gestank noch Duft noch Erinnerung, sondern lediglich ein Buchstabenmee(h)r? – die TAZ schreibt das nämlich alles ordentlich aus, verwendet keine Ziffern - dann empfiehlt Ihnen die Pressebeschauerin diesen Artikel trotzdem, weil er nicht nur eine kleine Einführung in die Gedankenwelt von Zahlenneurotikern gibt, sondern weil er auch so schöne Sätze bereit hält wie diesen:
"Zu den Großriechern (Makrosmatikern) zählen vor allem Schweine und Hunde, zu den Zahlenschmeckern Mathematiker und Autisten."
Design in Zeiten des Mangels
"Vier Schrauben für die Ewigkeit" – nein, die Kollegen der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG betreiben kein Teamwork mit der TAZ. Die Schräubchen sind auch nicht locker, sondern im Gegenteil fest anzuziehen. Sie gehören zum DDR-Haushaltsrührgerät RG28, und wer dereinst beherzt zum Schraubenzieher griff, bekam das Ding an der neuralgischen Vier-Schräubchen-Stelle garantiert wieder flott.
Die SÜDDEUTSCHE widmet sich wenige Tage vor dem Jubiläum 25 Jahre Deutsche Einheit dem Design der DDR, den Alltagsgegenständen und der Nachhaltigkeit, die so selbstverständlich ist, wenn der Mangel täglich möglichst kreativ umschifft werden musste.
Der Sammler Günter Höhne etwa freut sich noch heute über ein spezielles, nahezu unzerstörbares Geschirr.
"Ich bin doch nicht verrückt und lasse Gläser herstellen, die unzerbrechlich sind. Ich muss Gewinn machen", sagte dagegen der neue Besitzer, als er den Betrieb kurz nach der Wende übernahm. Jens Bisky erzählt von den "Wonnen des Mangels" und den gut gefüllten Intershop-Läden, wo man mit Devisen zahlte:
"Aus 'Jeder nach seinen Möglichkeiten' wurde 'Jeder nach dem Wohnort seiner Tante'."
Trotzdem zieht er in der SÜDDEUTSCHEN ein respektvolles Fazit:
"Die schönsten Beispiele des DDR-Designs erinnern heute an eine Moderne, die an Wohlstand, Schönheit, Sauberkeit durch Naturbeherrschung glaubte: Nostalgie für Fortgeschrittene."
Lob für "Weissensee"
Von Nostalgie wie Ostalgie ist die Serie Weissensee weit entfernt, und so einhellig gelobt wie dieser Fernseh-Mehrteiler wird in den Feuilletons selten. "Großartig", der TAGESSPIEGEL, "umwerfend komisch und herzzerreißend tragisch, dramatisch und ohne Pathos", so die FRANKFURTER ALLGEMEINE. Die dritte Staffel der TV-Serie Weissensee erzählt von den Wochen vor und nach dem Mauerfall, "alles Fiktion und doch nichts erfunden" , so beschreibt die FAZ die Fortsetzung der kammerspielartigen Familienserie, die Weissensee last but not least eben auch noch ist. Kurzum: drei Abende nacheinander und direkt vor dem 3. Oktober scheint sich Fernsehen mal richtig zu lohnen.
Eine kurze Gratulation soll noch sein, der TAGESSPIEGEL denkt an den 80. Geburtstag der Krimiautorin Ingrid Noll. Nirgendwo bringen Ehefrauen ihre Ehemänner so akribisch und so beiläufig um die Ecke wie in ihren Büchern, die medizinischen Kenntnisse der Arztgattin Noll sind der Autorin Noll bei jedem Giftmord nützlich; eine bewundernswerte und eigenwillige Karriere - erst mit 54 Jahren begann Ingrid Noll mit dem Schreiben. Ihr gerade erschienener Krimi "Der Mittagstisch" hält laut TAGESSPIEGEL "manche Überraschung in gastrosexueller Hinsicht bereit". Chapeau und Glückwunsch!
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