Aus den Feuilletons

Die Küche als das große, geile Ding

Eine Küche mit eingebauten Elektrogeräten, in einem Küchenstudio in Schwerin.
Unter 10.000 Euro meist nicht zu haben: die Designer-Küche © picture alliance / dpa / Jens Büttner
Von Ulrike Timm · 22.09.2016
Was früher das Auto, war ist heute die Küche: ein Statussymbol. Doch selbst gekocht wird heute so selten wie nie, stellt die "Süddeutsche Zeitung" fest und wundert sich ein bisschen.
behauptet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, und legt fröhlich nach:
"Allein die Tische nehmen mittlerweile Dimensionen an, die man bislang nur aus den Refektorien der Klöster kannte… Die Küche als moderner Sakralraum. Das Kreuz wird durch den Dunstabzug und der Altar durch den Küchenblock ersetzt – eine Frage des Glaubens."
Nun ist aber gut, denkt die Pressebeschauerin, bestaunt das Foto des Heiligtums, das die SÜDDEUTSCHE dem Artikel beigegeben hat und hat ihre eigene Küche – eher klein, bestenfalls mittelgeil und zusammengewürfelt statt durchgeplant – trotzdem gern. Die ist nämlich Treffpunkt – hier wird geschmurgelt und geschnackt und die erste Weinflasche entkorkt, nicht im Wohnzimmer. In den Prestigeanlagen ab 10.000 Euro ist das oft anders, weiß die Fachwelt, da wird nämlich gar nicht so oft gekocht.

Die Kücheneinrichtung: ein Statussymbol wie einst das Auto

Warum all das? Samstag ist der offizielle "Tag der Küche". Den muss die Branche erfunden haben, die in den letzten Jahren so fulminanten Aufschwung nahm. Wobei – und das ist die Quintessenz des Artikels von Gerhard Matzig – die Entwicklung eben eine gegenläufige ist: die Kücheneinrichtung ein Statussymbol wie einst das Auto. Zugleich kommt verstärkt Lieferando vorbei oder aus der Dings-Braterei wird etwas aufgewärmt, und im Supermarkt nehmen die Fertiggerichte mehr Regalmeter ein denn je. Angeblich
"glauben Menschen auch dann, dass sie kochen, wenn sie lediglich eine knetbare Materie, die, sagen wir, Fix-und-Fertig-Nudeltopf heißt, aus dem Aromapack nehmen, und (jetzt kommt das Kochen) "bei mittlerer Hitze unter gelegentlichem Umrühren erwärmen."
Schon stellen wir kruschteligen Kommunikationskleinküchennutzer fest: Eigentlich schreibt der Mann über den totalen Kulturverfall, und wir machen da nicht mit. Gut so.
"Bitte auch nutzen!"
– wir sind der Designer-Dunstabzugshaube entflohen, aber das Problem kommt wohl öfter vor. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE beschäftigt sich mit einer edlen Immobilie in New York, Fifth Avenue, gegenüber dem Metropolitan Museum. Das Haus gehört dem Bund, das Goethe-Institut hat dort einst residiert, sich aber in weniger feine Gefilde verzogen, und nun steht die German Academy zwar schön rum, nur was rein soll, muss noch genauer geklärt werden. Und wer. Und wozu. Immerhin: Bundesaußenminister
"Steinmeier wird Geistergespräche führen, mit Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und auch mit einem seiner Vorgänger, Willy Brandt".
Sie alle waren im Haus, in dem der Außenminister am Rande der UN Generalversammlung nun mal nach dem Rechten sehen möchte, schon zu Gast. "Bitte auch nutzen!" also.

Wehmütiger Abschied von Frank Castorf

Gehen wir von der Küche übers Haus noch kurz in die ganz große Welt, "In diesen heil'gen Hallen kennt sich die Gemeinde" – so überschreibt die Neue Zürcher Zeitung ihren Premierenbericht aus der Berliner Volksbühne. Wenn Christoph Marthaler die letzte Frank-Castorf-Spielzeit an der Volksbühne eröffnet, dann rennen alle hin, die Feuilletons sowieso. Schon um wehmütig den Abschied einzuläuten.
"Der belgische Kurator und Ex-Tate-Gallery-Direktor Chris Dercon wird kommen, da hilft nichts", heißt es in der WELT. Die Aufführung? Poetisch-melancholisch-verspielt-chaotisch und mit Reminiszenzen an die vielleicht berühmteste aller Volksbühnen-Inszenierungen der letzten 25 Jahre, ebenfalls von Marthaler, "Murx den Europäer! Murx ihn. Murx in. Murx ihn ab!" Das aktuelle Stück heißt: "Bekannte Gefühle. Gemischte Gesichter", undso die WELT
"der Titel ist eine schöne, sanfte Irritation, weil man zuerst den Impuls hat, die Wörter wieder an ihren richtigen Platz zurückzuschieben und "Gemischte Gefühle. Bekannte Gesichter" daraus zu machen, aber dann denkt man: Nein, das passt schon."
Wie die Wurschtelküche, die der Designkathedrale tapfer trotzt. Einfach, weil man da tatsächlich kocht.
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