Aus den Feuilletons

Die Demokratie im Herzen

Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani spricht am 04.12.2016 in Hamburg, nachdem ihm der Marion Dönhoff-Preis verliehen wurde.
Schriftsteller Navid Kermani © dpa picture alliance Axel Heimken
Von Adelheid Wedel · 08.03.2017
Navid Kermani hat am Mittwoch in Berlin den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen erhalten. "Mut zum Pathos" erkennt Wolf Lepenies in der "Welt" im Schaffen des Schriftstellers, in seiner Laudatio benennt er "Patriotismus für die Demokratie" als eine Fähigkeit des Preisträgers.
"Damit die EU nicht zerfällt, braucht es überzeugende Antworten auf die real existierenden Probleme Europas",
lesen wir in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und finden den Gedanken nicht gerade neu, wenngleich man ihn gar nicht häufig genug wiederholen kann. Neu ist die Schlussfolgerung, die Thomas Speckmann aus der Analyse der Misere zieht:
"Gerade die andauernde Krise der EU könnte erstmals eine europäische Öffentlichkeit entstehen lassen."
Speckmann rezensiert zwei Bücher, die kürzlich bei Suhrkamp erschienen sind. Er setzt sich vor allem mit Luuk van Middelaars Werk "Vom Kontinent zur Union", über Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa auseinander. Der niederländische Historiker und Philosoph beklagt die nicht enden wollende Krise Europas und resümiert:
"Die Herausforderungen und Probleme scheinen von Jahr zu Jahr nicht weniger, sondern mehr zu werden. Besorgt fragt er: Werden dem britischen Beispiel weitere Mitglieder der EU folgen? Wie gehen die Wahlen in Frankreich und den Niederlanden aus? Werden auch dort die Europa-Gegner triumphieren?"
Das alles spitzt sich zu in der Frage: Wie geht es nun also weiter mit Europa und der westlichen Welt?
Die britische Entscheidung bedeutet in van Middleaars Augen "eine Amputation für Europa, aber keinen Todesstoß. Doch das", so Middleaar weiter, "gilt nur unter der Voraussetzung, dass die verantwortlichen Politiker in Europa die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle bekommen. Dazu müssen die übrig bleibenden 27 Regierungen entschlossen Initiativen starten, die das Vertrauen der europäischen Bevölkerung zurückerobern können."
Als Hoffnungszeichen formulieren sowohl Luuk van Middleaar wie auch Claus Offe, Autor von "Europa in der Falle": Die anhaltende Krisensituation berge die Möglichkeit in sich, dass die immer wieder beschworene europäische Öffentlichkeit nach und nach entstehe.

Kritik an der Institution Kirche

Einen "Skandal der Saison" meldet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Er findet in einem Warschauer Theater statt. Dort lässt "ein Stück über die katholische Kirche, über Sexualität, Pädophilie, Abtreibung und Fremdenfeindlichkeit die Wellen hoch schlagen."
Manche danken dem Regisseur, andere meinen, auf der Bühne habe mehr als Kritik an der Institution Kirche stattgefunden, nämlich "Gotteslästerung". Dieses Agitationstheater erfülle keine andere Funktion als das Stadion für Fußball-Ultras.
Welche Aufgabe also hat das Theater, hat die Literatur im postfaktischen Zeitalter? Antwort darauf gibt der israelische Schriftsteller David Großman in der aktuellen Ausgabe der ZEIT. Und es ist zugleich eine Erwiderung auf die Sucht nach Massenwirkung im soeben besprochenen Theater:
"Selbst wenn zehntausend Menschen ein bestimmtes Buch zur gleichen Zeit lesen, ergreift es jeden auf andere Art und hilft einem jeden, sein Wesen auf individuelle Weise auszubuchstabieren. Verschiedene Partikel unseres inneren und äußeren Lebens, unserer Erinnerungen und unserer Identität streben dem starken Magneten Buch entgegen. In diesen Momenten spürt ein jeder von uns seine einzigartige Individualität, aber auch seine Zugehörigkeit zur gesamten Menschheit."

"Mut zum Pathos"

Ein bisschen viel Emphase mag jetzt mancher denken. Da setzen wir noch eins drauf und empfehlen mit der Tageszeitung DIE WELT "Mut zum Pathos". Den erkennt Wolf Lepenies im Schaffen von Navid Kermani, der den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen erhielt. Lepenies Laudatio nennt als Fähigkeiten des Preisträgers seine
"philologische Genauigkeit und seinen politischen Enthusiasmus, seine weitreichenden Rückblicke in die Geschichte und sein polit-aktuelles Engagement. Den Grundton all dieser Aktivitäten setzen ein entscheidender Patriotismus – der Patriotismus für die Demokratie, die Staatsform der Nüchternheit. Legitimität wird dem politischen Personal nur auf Zeit verliehen. Nüchternheit aber darf in der Demokratie nicht zur Kälte werden ... Nicht alleine mit dem Verstand, auch mit dem Herzen muss die Demokratie akzeptiert werden, wenn sie überleben soll."
Mehr zum Thema