Aus den Feuilletons

Der Richter und seine Lenker

Die große Strafkammer des Schwurgerichts Berlin verhandelt den "Fall Lars Koch" in dem TV-Film "Terror - Ihr Urteil", der am 17.10.2016 im "Ersten" gezeigt wird.
Der TV-Film "Terror - Ihr Urteil" endete so, wie es die Fernsehzuschauer entschieden. © Bild: ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung
Von Tobias Wenzel · 22.10.2016
Wer entscheidet künftig über Recht und Unrecht - die Strafrichter oder der Stammtisch? Solche Fragen hat das ARD-Fernsehprojekt "Terror. Ihr Urteil" ausgelöst. Die Artikel deutscher Feuilleton-Redaktionen lesen sich in dieser Woche ohnehin wie ein Ethik-Seminar.
"In diesem Jahr kam es bei einigen Abiturfeiern in Istanbul zum Eklat", schrieb Can Dündar in seiner Kolumne "Meine Türkei" für DIE ZEIT. "Am Istanbul-Gymnasium beispielsweise kehrten die Schüler dem frisch eingesetzten Rektor, Absolvent einer Predigerschule, bei seiner Ansprache den Rücken zu." Dieser "stumme Protest" gegen das Regierungsvorhaben, weitere Reformer durch Imame zu ersetzen, habe sich an vielen anderen Schulen der Türkei wiederholt.
In Deutschland muss man zum Glück nicht mehr (oder: noch nicht?) stumm protestieren. Man darf offen darüber diskutieren, was man als gut und schlecht, gerecht und ungerecht empfindet. Und das wurde so eifrig wie selten in den Feuilletons dieser Woche getan. Wohin man auch blätterte, stieß man auf moralische Urteile und Exkurse in die Ethik oder Rechtsphilosophie. Zuallererst wegen "Terror", der Fernsehbearbeitung von Ferdinand von Schirachs gleichnamigem Theaterstück. Darin wird einem Piloten der Bundeswehr der Prozess gemacht, weil er eigenmächtig ein von einem Terroristen entführtes Flugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen hat, das auf ein voll besetztes Fußballstadion Kurs genommen hatte. Ist der Pilot also des Mordes schuldig? Oder unschuldig, weil er vermutlich das Leben der 70.000 Fußballfans gerettet hat? Die Fernsehzuschauer konnten als Privatrichter auf dem heimischen Sofa abstimmen. Ihr Urteil: Nicht schuldig.
"Kaum ein Aspekt des Dilemmas bleibt unerwähnt, keine beteiligte Figur argumentiert aus einem Guss", schrieb Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über das Stück und die filmische Umsetzung. Die lobte zwar auch Elmar Krekeler in der WELT, allerdings war er schockiert von der Tatsache, dass sich der Richter im Film in der vorproduzierten Schlussfassung, die dann nach der Zuschauerbefragung gesendet wurde, dem Volksgericht beugte und einen Freispruch verkündete. Der Pilot sei "des Mordes in 164 Fällen schuldig", das sei das einzige Urteil, das es geben dürfe: "[…] wenn wir anfangen, Menschen zu Objekten einer Güterabwägung zu machen, zu Instrumenten irgendeiner, nehmen wir ihnen die Würde. Sind wir sehr schnell in einem Rechtssystem, in dessen Schatten wir nach 1945 lange genug gestanden haben", urteilte gleichzeitig mit Verve und kühlem Kopf und im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht Elmar Krekeler in der WELT. Man dürfe nicht "dem Stammtisch, dem Bauchgefühl, den Trollen die Oberhoheit über unser Rechtssystem" geben.

Warnung vor der Paralleljustiz

"Es ist gut, dass es keinen Volksgerichtshof gibt", befand Heribert Prantl in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und watschte "Terror. Ihr Urteil" als "Populisten-Porno" ab. "Es geht nicht um den Gegensatz zwischen Laien- und Berufsrichter, sondern zwischen staatlicher und nicht-staatlicher, privater Gerichtsbarkeit", präzisierte der Strafrechtler Klaus Günther in der FAZ und beschrieb zugleich einen neuen "Trend":
"Schiedsgerichte, Mediationsverfahren, selbständige Streitschlichtungsverfahren in Korporationen oder Religionsgemeinschaften bis hin zu einer Paralleljustiz zeugen von der sich verbreitenden Auffassung, Konflikte in Eigenregie besser lösen zu können als durch staatliche Verfahren."
Weiter ging’s im Ethikseminar Feuilleton:
"Wenn du ein Leben retten kannst, dann sollte man dieses Leben zumindest retten. Wir schützen diese eine Person im Auto." Christoph von Hugo aus der Forschungsabteilung von Mercedes soll das einem Journalisten in einem Gespräch über Roboterautos gesagt haben. Das erregte die Gemüter bei Twitter und Co. Darüber berichtete Joachim Müller-Jung in der FAZ. Viele lasen aus von Hugos Sätzen heraus, Mercedes wolle Roboterfahrzeuge bauen, die in Extremsituationen das Leben des Autofahrers automatisch retten würden, selbst, wenn das auf Kosten der anderen Verkehrsteilnehmer ginge. Mercedes dementierte, aber selbst Müller-Jung schien dem Dementi zu misstrauen. "So soll also die Konzernstrategie aussehen: an Programmierer und Entwickler wird die Entscheidungsmacht über Leben und Tod delegiert?", fragte er und verwies auf eine in "Science" veröffentlichte Studie, in der es um ethische Fragen in Bezug auf Roboterautos ging:
"Drei Viertel der Befragten würden lieber ein Auto fahren, das so programmiert sei, dass es bei einem Unfall utilitaristisch entscheidet – will heißen: dass eben nicht der einzelne Fahrer zu retten sei, sondern im Zweifel, wenn eine Kollision mit einer Gruppe von Passanten nur zum Preis eines tödlichen Aufpralls an einer Betonwand zu kriegen ist, die Fußgänger. Gefragt allerdings, welches Auto sie gerne selbst kaufen würden, eben dieses mit der 'fußgängerfreundlichen' Programmierung oder eben jenes, das in jedem Fall den Fahrer schützen will, ist die Mehrheit dann eben doch egoistisch genug, sich selbst schützen zu wollen."

Masturbation im Briefzentrum

Egoistisch hat Viktor Frölke als Postbote in Amsterdam gehandelt. Aber vielleicht sympathisch egoistisch? Als Vorgeschmack auf die Frankfurter Buchmesse berichtete Sarah Maria Brech in der WELT über das bisher nur auf Niederländisch vorliegende "Tagebuch eines Briefträgers". Die Veröffentlichung hat Frölke seinen Job gekostet. "Ab und an warf er Werbepostkarten in den Mülleimer, statt sie auszutragen. Eine 'Le Monde' für die französische Botschaft behielt er einfach", schrieb Brech. "Und an einem dunklen Nachmittag masturbierte er sogar im Briefzentrum."
Jetzt können Sie, liebe Hörer, mal darüber nachdenken, ob Sie das moralisch verwerflich finden. Sie dürfen es sogar laut aussprechen. Im Gegensatz zu den türkischen Gymnasiasten, die ihrem neuen Imam-Rektor schweigend den Rücken zukehrten.
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