Aus den Feuilletons

Der Historiker der Bundesrepublik

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler © picture alliance / dpa / Matthias Benirschke
Von Adelheid Wedel · 07.07.2014
"Als Bahnbrecher der Moderne" würdigen die Dienstags-Feuilletons den am Wochenende verstorbenen Historiker Hans-Ulrich Wehler. Zugleich beschäftigt sie der Streik der Bühnenarbeiter in Avignon.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG schreibt Jürgen Habermas zum Tod seines Freundes Hans-Ulrich Wehler:
"Noch in der Dramatik des unerwarteten Todes spiegelt sich die unermüdliche Vitalität eines kämpferischen Lebens, das von dem Impuls zehrte, Grenzen der Belastbarkeit auszutesten. Andererseits bildet diese Dynamik der Ereignisse einen eigentümlichen Kontrast zu den langen Rhythmen der wissenschaftlichen Arbeit – zur zähen Ausdauer, der unvergleichlichen Konzentrationskraft und dem Durchhaltevermögen eines Gelehrten."
Habermas nennt Wehlers fünf Bände der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" ein Monument,in dem "ein atemberaubender Reichtum an Daten und Literatur verarbeitet und zu einer großartigen Komposition zusammengefügt wurde – und zwar eine solche Fülle, wie sie heute nur noch durch die computergestützte Kooperation ganzer Institutsmannschaften bewältigt werden kann."
Habermas hebt Wehlers "Rolle des parteinehmenden Zeitgenossen"hervor, politische Zeitgeschichte habe er fortlaufend kommentiert, und damit – wie Christoph Jahr in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG unterstreicht – "zur Emanzipation der Gesellschaft vom autoritären Staat" beigetragen.
In der Tageszeitung DIE WELT analysiert Sven Felix Kellerhoff als entscheidenden Gegensatz in Wehlers Sichtweise der deutschen Geschichte:
"Tradition und Moderne. Während sich in erster Linie Frankreich, aber auch Großbritannien zu liberal kapitalistischen, schließlich demokratischen Gesellschaften weiterentwickelten, sei diese Linie von den Eliten des Kaiserreichs abgebrochen und erst in der Bundesrepublik mithilfe von außen wieder aufgenommen worden."
Kellerhoff erinnert an Wehlers "Attacken auf die vermeintlich verheerende soziale Ungerechtigkeit im vereinten Deutschland, mit denen er die Erwartungen des linksliberalen Publikums bediente. Aus dem Munde des führenden Sozialhistorikers Deutschlands hatte diese Klage Gewicht."
In der Berliner Tageszeitung TAZ lobt Stefan Reinecke den Begründer der "Bielefelder Schule" als den "vielleicht einflussreichsten Historiker der Bundesrepublik", spart aber zugleich nicht mit Kritik. Da heißt es:
"Für Wehler, typisch für die Generation der HJ und des Wiederaufbaus, zählte Leistung. Für Hedonismus, Gender, Post-68er fehlten ihm Antennen. Noch krasser war der Irrtum bei der Migration. Anstatt das Multikulturelle als fundamentale Umformung der Republik zu begreifen, finden sich nur abschätzige Notizen über 'bildungsferne Migranten in ghettoartigen Wohnquartieren'."
Der Historiker der Bundesrepublik habe am Ende die Republik nicht mehr verstanden. Wehlers langjähriger Mitarbeiter an der Universität Bielefeld, Jürgen Kocka, zieht im TAGESSPIEGEL das Fazit:
"Die politische Kultur unseres Landes wäre ohne ihn ärmer."
Arbeitskampf in Avignon
Der Arbeitskampf in Avignon, so steht es in der WELT, ist ein weiteres Hauptthema der Zeitungen vom Dienstag. Zunächst funkt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG SOS: Kultur in Gefahr, was sie noch in derselben Schlagzeile auflöst:
"Die Oper wird gerettet."
Wir erfahren:
"Oliver Py, der neue Direktor des Festivals von Avignon, wollte sein neubarockes Beschwörungstheater immer auch politisch verstanden wissen."
Das hat nun die Theaterbühnen Avignons eingeholt.
"Alle Eröffnungspremieren des Festivals mussten wegen eines Streiks der Schauspieler und Bühnentechniker abgesagt werden."
Im Konflikt geht es um das Arbeitslosengeld der im Zeitvertrag arbeitenden Künstler. Inzwischen läuft der Theaterbetrieb und erste Rezensionen künden von Erfolg und Misserfolg der Aufführungen. Am Beispiel von "Orlando ou l'impatience, das Py in Eigenregie herausbrachte, beobachtete Joseph Haniman in der SÜDEUTSCHEN ZEITUNG:
"Die Gefahr ist bei so viel theatralischer Selbstspiegelung, dass dem Theater die Welt abhanden kommt und das politische Wort auf der Bühne abstumpft."
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