Aus den Feuilletons

Der Hasskrampf der Gekränkten

AfD Demo in Erfurt: Björn Höcke zu dem geplanten Moscheebau
Die AfD gibt sich beleidigt und betrogen - und erreicht damit viel Aufmerksamkeit - so wie Thüringens AfD-Fraktions- und Landeschef Björn Höcke. © dpa / Foto: Martin Schutt
Von Arno Orzessek  · 08.10.2016
Beleidigte Leberwürste stehen zurzeit ganz oben auf der Speisekarte. Die "Zeit" befasst sich damit, warum gekränkte Ankläger und Denunzianten in Deutschland so viel Aufmerksamkeit erhalten. Und es ist auch zu lesen, wer genau gemeint ist.
"Warnung! Dieser Artikel kann Gefühle der Kränkung auslösen."
So stand es groß und rot und schwarz über dem Feuilleton-Aufmacher der Wochenzeitung DIE ZEIT.
Wirklich ernst gemeint war’s natürlich nicht, das mit der Warnung – sondern spöttisch.
Laut ZEIT-Autor Jens Jessen ist es heutzutage nämlich leider schwer in Mode, beleidigt zu sein.
"Ein Sturm der Kränkungsgefühle tobt durch die Welt [bemerkte Jessen]. Überall lauert ein tatsächlicher oder nur eingebildeter Affront. Jeder missbilligt jeden für seine Ideale oder Lebensform, und alle gemeinsam sehen in der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Missbilligung einen Angriff auf die Ehre und ihr Selbstverständnis."

Nerviger Charakterzug des Zeitgeistes

Klar, das klingt arg pauschal. Und doch meinen wir: Jessen hat einen nervigen Charakterzug des Zeitgeistes richtig erfasst. Auch seinen Überlegungen zum Wandel der Political Correctness stimmen wir zu.
"Was als menschenfreundliche Achtsamkeit für politisch Benachteiligte und seelische Verletzlichkeit begann, ist zu einem Hasskrampf und Machtkampf verkommen. Die politische und mediale Aufmerksamkeit, die den Anklägern und Denunzianten noch immer entgegengebracht wird, hat nachgerade rührende Züge. […]. Es finden finanzielle Umverteilungen statt, es werde Ehrenplätze in Talkshows und politischen Parteien vergeben. Die Letzten werden die Ersten sein: Nirgendwo erfüllt sich die biblische Prophezeiung augenfälliger als in der öffentlichen Resonanz der Minderheiten."
Übrigens blieb Jessen keineswegs abstrakt. Er benannte von konkurrierenden Holocaust-Opfergruppen über Islamisten bis hin zur AfD beleidigte Leberwürste verschiedenster Sorte…
Wir aber lassen die Sache hier auf sich beruhen und wenden uns dem gewaltigen… unseres Erachtens: allzu gewaltigen… Feuilleton-Theater zu, das der Enthüllung des Pseudonyms Elena Ferrante durch den italienischen Journalisten Claudio Gatti gefolgt ist.

Die Enthüllung von Elena Ferrante

Gatti hatte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG und anderen Blättern aufgedeckt, dass sich hinter Ferrante die in Rom lebende Übersetzerin Anita Raja verbirgt.
"Eine leider überhaupt nicht geniale Recherche", moserte Dirk Knipphals.
Der Autor der TAGESZEITUNG prophezeite, um die Bestseller-Autorin würde nun der übliche, vulgäre, der Literatur abträgliche Hype entstehen, und zog auch sonst stramm vom Leder:
"Gatti ist an seine Enthüllung mit großer detektivischer Energie herangegangen. Er hat sich Honorarlisten verschafft und Grundbücher durchgesehen. Als ob es um die Aufdeckung eines Berlusconi-Komplotts ginge, um Wiki-Leaks oder Mafiamachenschaften! Und die FAS hat die Entlarvung jubelnd hochgezogen und mit Superlativen garniert ([von wegen]‚Italiens berühmtestes Pseudonym‘ […]). […] Als ob es nicht wichtiger wäre zu verstehen, warum die Romane der Elena Ferrante so viele Menschen faszinieren. Die ganze Sache macht schlechte Laune."
Szene aus einer Verfilmung eines Elena-Ferrante-Romans.
Szene aus einer Verfilmung eines Elena-Ferrante-Romans.© imago
Um den TAZ-Autor Knipphals nicht den Beleidigten zuzurechnen, die wir gerade von Jens Jessen schmähen ließen, konstatieren wir nur: Er hatte wirklich so einen Hals!
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG befragte unterdessen Gatti persönlich, warum er Ferrante alias Raja entlarvt hatte.
"Die allererste Person, die Elena Ferrantes Privatsphäre entlarvt hat, war […] Ferrante selbst [korrigierte Gatti]. Sie schrieb […]einen autobiographischen Essay: dass sie die Tochter eines Schneiders sei und drei Geschwister hat, dass sie ihre Jugend in Neapel verbrachte […] und ähnliches. Nichts davon ist wahr. Man kann nicht absoluten Schutz der eigenen Privatsphäre verlangen und zugleich mit Falschinformationen Spekulationen über die eigene Biografie Nahrung geben. Man kann nicht zugleich die Schönheit einer fertigen Torte bewundern und sie essen."
Tja, da ist – zumindest tortentechnisch - auch etwas dran.
Belassen wir es bei dem märchenhaften Resümee, das die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG per Überschrift zog: "Es war einmal Elena Ferrante."
Es war einmal… eine schöne Stadt: So heißt es derzeit oft über Dresden, wo sich am Tag der deutschen Einheit am Rande der offiziellen Feierlichkeiten der rechte Hass in grobem Schwall erbrach.
"Der enthemmte Mob von Dresden hat skandiert wie im Dritten Reich. Diese völkische Gesinnung ist unvereinbar mit Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie und Menschenwürde",
monierte die Tageszeitung DIE WELT.
Thomas Schmid warnte: "Gedanklich ist es ein kurzer Weg vom Volksverräter zum Volksgerichtshof."
In einem weiteren WELT-Artikel erklärte sich der Schriftsteller Elian Ehrenreich die Pegida-Verbundenheit und die West-Skepsis nicht weniger Dresdner aus altem Leid.

Das alte Leid der Dresdner

"Das Bombeninferno vom 13. Februar 1945 instrumentalisierte die DDR – wie zuvor schon NS-Propagandachef Goebbels – zu einer alljährlichen Anklage gegen den Westen. Und wusste sich damit an der Seite jener Dresdner, die das Inferno überlebt hatten. […] Vielleicht ist das eine der wenigen Indoktrinationen, mit denen die DDR-Führung wirklich erfolgreich war."
Und was unternehmen die etablierten Kulturinstitutionen gegen den allseits erblühenden Nationalismus?
"Sie ducken sich weg" – klagte in der ZEIT Martin Roth, der kürzlich seinen Job als Direktor des Victoria & Albert Museums in London gekündigt hat.
"Wie großartig aber wäre es, wenn jeder, der in Europa verantwortlich ist für die Zeugnisse der Geschichte – in den Hochschulen, Archiven, Bibliotheken, Museen, Theatern, Opern – aufstehen würde und ganz einfach erklärte, zu welchem kulturellen Selbstmord ein übersteigerter Nationalismus führt. […] Sie sollten es tun, solange sie dies noch unabhängig und mit stolzer Stimme vermögen."
Okay, das war jetzt eine Aufforderung an die - neudeutsch sogenannten - Influencer unter uns.
Zum Abschluss noch eine Aufforderung an alle Eltern unter uns.
Sorgen Sie doch bitte dafür, dass Ihre Kids am Wochenende wenigstens einmal Grund haben auszurufen, was in der WELT Überschrift wurde:
"Hipp, hipp, hurra, alles ist super, alles ist wunderbar!"
Und wenn’s irgend geht: Schließen Sie sich an!
Mehr zum Thema