Aus den Feuilletons

Das individuelle Schreiben geht verloren

Von Klaus Pokatzky · 18.03.2017
Männerbart, Schützenkönig, Handschrift - die Feuilletons widmen sich bedrohten Kulturtechniken und -gütern. Individuelles Schreiben war einmal, bedauert die NZZ. Damit sei Selbstausdruck mittels Schrift uninteressant geworden - und Rechtschreibung sowieso.
"Die Schrift ist das, was sich einprägt, ist eine unverwechselbar persönliche Spur."
"Ob mit dem Stichel auf der Tontafel oder mit dem Kugelschreiber auf dem Notizblock."
Das individuelle Schreiben war einmal – jetzt wird auf den Tastaturen des Computers herumgehackt oder auf dem Smartphone gewischt.
"Statt Schrifttexten verschickt man per Handy Bildnachrichten (Videos mit Tonspur), die in Realzeit empfangen werden können", schrieb Felix Philipp Ingold über den handschriftlichen "Kulturverlust" in digitalen Zeiten:
"Es bedeutet nicht weniger, als dass Selbstvergewisserung und Selbstausdruck vermittels Sprache und Schrift nach Jahrhunderten urplötzlich uninteressant geworden sind."
Und die Rechtschreibung sowieso. Smiley.

Wo Deutschland schoss und soff

"Wer denkt, beim Sportschießen muss man ballern und sich volllaufen lassen, dem sei an dieser Stelle gesagt: Am Schießstand geht es erstens bis zweitens um Deutschland."
Das sagte unmissverständlich CHRIST UND WELT, die Beilage der Wochenzeitung DIE ZEIT. Wenn die Handschrift auch ausstirbt, die schöne Tradition des Schützenkönigs bleibt auch in Twitter-Zeiten. "Wo Deutschland schoss und soff, war es ganz bei sich", meinte Raoul Löbbert über eine Schieß- und Feierwelt, in der der Schützenkönig nicht nur gut ballern, sondern auch ein Christ sein musste. Da sorgte es in den letzten Jahren für Irritation, wenn auf einmal Schwule oder Muslime sich den Königshut erschossen hatten. Nun herrscht Klarheit: Auch Deutschlands Schützen sind in der Gegenwart angekommen. "Der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften gibt bekannt: Deutsche Schützen müssen nicht katholisch sein! Willkommen also, ihr Schwulen und Nichtchristen!" Hoffentlich wird das auch dem türkischen Präsidenten mitgeteilt.

Lesung für Deniz Yücel

"Seit vier Wochen sitzt der Journalist Deniz Yücel in der Türkei in Untersuchungshaft, und es ist nicht absehbar, wann er freigelassen wird", erinnerte die Tageszeitung TAZ – und berichtete dann von einem beeindruckenden Abend der Solidarität mit dem deutsch-türkischen Reporter:
"Im Berliner Festsaal Kreuzberg lesen Kolleginnen und Kollegen von Deniz Yücel Texte des Autors. Es ist voll, es ist lustig – und manchmal fließen Tränen."
800 Menschen sind gekommen. "Ganz viele sind doch normale Kreuzberger", hieß es in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Darunter der elegante, großstädtische und vollkommen kopftuchfreie türkische Mittelstand, den man in Talkshows nie sieht, wo gerne auf Gemüsemärkten unter stammelnden Obstverkäuferinnen recherchiert wird", schrieb Gustav Seibt.
"Der Konflikt zwischen der Türkei und den Niederlanden trifft jetzt auch Tiere", erfuhren wir aus der TAZ. "Im Allgemeinen wissen Kühe nichts von Patriotismus und internationaler Diplomatie", stellte Jörg Wimalasena nüchtern fest – angesichts eines neuen Höhepunktes beim Streit um die Auftritte von türkischen Politikern, die etwa in den Niederlanden oder in Deutschland Werbung für die neue Sultans-Verfassung von Recep Tayyip Erdoğan machen wollen.
"Wenn ihr unsere Minister nicht einlasst, weisen wir eure Paarhufer aus. Das muss Bülent Tunç vom Türkischen Verband der Viehproduzenten durch den Kopf gegangen sein."
Und so werden nun niederländische Kühe ausgewiesen, die zu Zuchtzwecken in die Türkei gebracht worden waren.

Völkerverständigung durch die Blume

"Der türkische Floristenverband muss jetzt sofort nachziehen, den Import von holländischen Tulpen verbieten und schon eingedrungene Blümchen rauswerfen!", forderte die TAZ – sollte aber vielleicht besser mal Tulpen-Artikel im Konkurrenz-Feuilleton lesen.
"Was verbindet Türken und Niederländer? Die Tulpe!" Das hatte die SÜDDEUTSCHE getitelt.
"Ursprünglich stammt die Tulpe aus Persien, aber es waren die Türken im Osmanischen Reich, die sie erstmals in größerem Stil kultivierten", berichtete Stefan Weidner. "In der Mitte des 16. Jahrhunderts kamen dann die ersten Tulpen von Istanbul nach Wien." Und von da ging es weiter Richtung Holland, das so – dank der Türken – zum Tulpenland wurde.
"Die Tulpe wurde das Symbol für den intensiven kulturellen Austausch, der nun anhob. In vielen Bereichen übernahmen die Türken die europäische Lebensart."
So geht Völkerverständigung: durch die Blume.

Martin Schulz, der bärtige Ritter

"Der Mann trägt einen rührseligen Bart, doch wird ihm inzwischen Charisma attestiert."
Das stand in der ZEIT, wo Männerbärte offenbar nicht gern gesehen sind.
"Das Verblüffendste nach dem Auftauchen von Martin Schulz war seine Rolle als Fremdling", schrieb Thomas E. Schmidt über den bärtigen Kanzlerkandidaten der SPD:
"Schulz ist der Mann, der die Undurchschaubarkeit und die Machtmonotonie der Bundespolitik noch immer nicht verkörpert. Bis heute nicht. Das machte ihn zum Ritter, der von außen anklopfte, staunend, aber entschlossen, er war der ohne Stallgeruch, der Frische und Unverbrauchte."
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.© dpa/Kay Nietfeld
So ähnlich sah das auch die NEUE ZÜRCHER. "Als Typ bildet Schulz das Kontrastprogramm zur Kanzlerin. Er wirkt offen, zugänglich, impulsiv", meinte Joachim Güntner – und kam dann natürlich zum wirklich Wichtigen an Angela Merkels Herausforderer:
"'Der Bart muss ab', fordert Udo Walz, und weil der Prominenten-Coiffeur in Berlin die Kanzlerin frisiert und zuvor auch das Haupthaar von Gerhard Schröder und Helmut Kohl unter der Schere hatte, machte seine Expertise sogleich die Runde: Schulz sähe dann jünger und gepflegter aus."
Für Joachim Güntner wäre das aber "ein Irrweg" – denn: "Einzig das Wachbataillon, die Visitenkarte der deutschen Streitkräfte, pflegt heute noch die Kultur der 'verbotenen drei B: keine Brille, keinen Bart, keinen Bauch'."
Dafür dürfen die Soldaten da aber Muslim sein oder schwul – oder beides.
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