Aus den Feuilletons

Das Anderssein als Normalfall

An einem Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht am 06.10.2013 der Schriftzug " Multikulti nein Danke".
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Kulturen werde sich in 100 Jahren noch verstärkt haben, heißt es in der NZZ. © picture alliance / dpa / Stefan Sauer
Von Adelheid Wedel · 09.09.2016
In 100 Jahren werden noch mehr Menschen verschiedenster Kultur auf engem Raum zusammenleben, ist sich Literaturprofessor Hans Ulrich Gumbrecht sicher. In der "Neuen Züricher Zeitung" überlegt er, mit welcher Einstellung die Menschen daraus folgende Konfrontationen überleben werden.
"Formiert sich an den Universitäten gerade eine neue Bewegung à la 1968?", fragt Hans Ulrich Gumbrecht in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Der Professor für Literatur an der Stanford University kommt zu dieser Vermutung, indem er das Verhalten seiner Studenten und deren Korrektheit, verstanden als aktiver Moralismus, beobachtet. Er sagt voraus, "dass angesichts der globalen demografischen Entwicklung und neuer Dynamiken der Mobilität in hundert Jahren mehr Menschen aus den verschiedensten Kulturen und Sprachen in dramatisch verdichteter räumlicher Nähe zusammenleben. Ereignisse von Gewalt und ein Alltag permanenter Frustrationen werden dann, ungleich drängender als heute, zu Hauptbedrohungen unserer Existenz." Darauf müssen sich die Menschen einstellen. Gumbrecht meint: "Entweder die Individuen entwickeln eine hohe Frustrationstoleranz. Oder aber sie einigen sich auf eine Nulltoleranz gegenüber jeder Form von Gewalt und auf einen Stil des Verhaltens, der das Anderssein der anderen als Normalfall voraussetzt." Im zweiten Fall, so der Autor, empfiehlt es sich, Political Correctness schon heute einzuüben, auch und gerade mit den manchmal lästig erscheinenden Forderungen, die "der neue Jugendmoralismus" aufbringt.
Positives von der Jugend vermeldet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG in einem weiteren Artikel. Dort ist zu lesen: "Inmitten aller Krisen erinnern zwei Jugendorchester an einen Kontinent ohne kulturelle Schranken." Corina Kolbe schreibt: "Im Doppelpack sind die beiden Jugendorchester, die in diesem Jahr runde Jubiläen feiern, normalerweise nicht zu erleben. Von Anfang an verbindet sie das Ideal eines grenzenlosen Musizierens auf hohem künstlerischem Niveau." 1976 wurde in London nach einem Beschluss des Europaparlaments ein Jugendorchester gegründet, das heute European Union Youth Orchestra heißt. Mit dem Gründungsdirigenten Claudio Abbado und anderen prominenten Künstlern sind die Musiker in ihren mittlerweile 28 Heimatländern und auf allen Kontinenten aufgetreten, "um als Kulturbotschafter die Idee eines vereinten Europa mit Leben zu erfüllen. Im Frühjahr 2016 wurde bekannt, dass Brüssel kein Geld mehr bereitstellen wollte." Provoziert durch den Druck internationaler breiter Unterstützung "sicherte EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker schließlich zu, dass für die weitere Zukunft des Orchesters gesorgt werde". Das in Wien beheimatete Gustav-Mahler-Jugendorchester erhält Subventionen der Stadt Wien und der Republik Österreich und deckt den Großteil seiner Kosten durch private Förderer und Sponsoren und andere selbst erwirtschaftete Einnahmen. Jetzt sind beide Orchester nach Berlin gekommen und eröffneten das Festival Young Euro Classic.
Von Jugendlichen anderer Coleur handelt ein Essay von Klaus Leggewie, der unter dem Titel "Die Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al Suri & Co" bei Suhrkamp erschienen ist. Darin warnt Leggewie "vor der Bedrohung des Westens durch drei apokalyptische Bewegungen: Identitäre, Eurasier, Dschihadisten. Leggewie argumentiert, dass alle drei Strömungen das Ziel haben, einen Bürgerkrieg in Europa zu entfachen und eine extremistische Unvernunft in Gang zu setzen". Dabei geht es "um eine universale Bedrohung, die apokalyptische Züge trägt". Samuel Salzborn rezensiert das Buch in der Tageszeitung TAZ lobend: "Leggewie hat ein eminent wichtiges Buch geschrieben, das den weltanschaulichen Raum zeigt, der solche Taten überhaupt erst kreiert."
"Wo bleibt der deutsche Islam?", fragt Till-Reimer Stoldt in der Tageszeitung DIE WELT. Der Autor warnt: "Der Andersgläubige als Neuauflage des vaterlandslosen Gesellen - dieser Gedanke sollte alle Alarmglocken schellen lassen. Es steckt gar zu viel Abneigungs- und Hetzpotenzial darin, als dass man zuschauen dürfte, wie sich dieser Eindruck festsetzt."
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