Aus den Feuilletons

Brustwarzen - nein, Mordaufrufe - ja?!

Zahlreiche bunte Filzstifte in der Facebook-Europazentrale in Dublin neben dem Firmenlogo.
Facebook-Europazentrale in Dublin: Warum schreitet das Unternehmen nicht ein, wenn Nutzer aufrufen, Flüchtlinge zu erschießen? © picture alliance/dpa/Jessica Binsch
Von Arno Orzessek  · 22.08.2015
Facebook-Nutzer rufen unverhohlen dazu auf, Flüchtlinge zu erschießen. Die Süddeutsche Zeitung empört sich darüber, dass Social-Media-Unternehmen darin offenbar keinen Verstoß gegen die "Gemeinschaftsstandards" sieht.
Nähern wir uns den relevanten Dingen heute auf Samtpfoten.
"Katzen würden Katzen klicken",
titelte die Tageszeitung DIE WELT, die eine Ausstellung in New York zum Anlass nahm, um zu fragen:
"Wie kam es nur dazu, dass kuschelige Haustiere zum wichtigsten Inhalt des Internets wurden?"
Die Antwort von WELT-Autor Hannes Stein:
"Katzen sind Kinder. Indem wir uns ihre Bilder – und hier stimmt die Floskel tatsächlich einmal buchstäblich – zu Gemüte führen, vermenschlichen wir sie; wir amüsieren uns über ihre possierlichen Spiele, wie wir uns über die Niedlichkeit unseres eigenen Nachwuchses amüsieren."
Da wir uns selbst weder reproduziert noch je Katzenbilder im Internet angeschaut haben, lassen wir Steins These – so phantasiearm sie sein mag – unkommentiert.
Bleiben unterdessen bei den digitalen Medien.
Hier einige der Facebook-Beiträge zur Flüchtlingsdebatte, die Simon Hurtz in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG sammelte:
"'Ich verstehe nicht, warum man diesen Flüchtlingswahn nicht beendet, indem man alle abschießt'. 'Mit einem Loch im Hinterkopf wären manche Leute noch als Nistkasten zu gebrauchen' oder 'Darum mein Appell: Saubere Straßen für Deutschland: Brummifahrer, haltet drauf'."
Viele Nutzer haben Facebook aufgefordert, die Unflätigkeiten zu löschen. Der Konzern jedoch sieht keinen Verstoß gegen die "Gemeinschaftsstandards".
Und das brachte SZ-Autor Simon Hurtz in Wallung.
"In der Vergangenheit reichte oft schon eine nackte Brustwarze, um einen Beitrag sperren zu lassen. Und nicht nur die berühmte amerikanische Prüderie lässt manche an Doppelstandards glauben: So entfernte Facebook Mohammed-Karikaturen auf Druck der türkischen Regierung, verbannte tibetische Freiheitskämpfer, um es sich nicht mit China zu verscherzen, bevormundete russische Oppositionelle, löschte […] einen kirchenkritischen Beitrag des Moderators Domian […] und sperrte den Account des Kunstkritikers Jerry Saltz, weil er spätmittelalterliche Gemälde mit Folterszenarien hochgeladen hatte."
SZ-Autor Hurtz über Zensur bei Facebook.
Zurück zur Flüchtlingsdebatte. Zu einem wichtigen Disputanten ist der Schauspieler und Produzent Til Schweiger geworden, der eine Stiftung für Flüchtlinge ins Leben gerufen hat - und in der BERLINER ZEITUNG grundsätzlich wurde.
"Wo Ausländerfeindlichkeit [wie in Dresden] direkt in Aktion tritt, muss der Staat eben zwei Hundertschaften Polizisten hinschicken. Denn diese Leute […] sind Feinde der Demokratie – das kann man nicht oft genug sagen. Und der Staat muss die Demokratie schützen. Versammlungsfreiheit darf doch nicht so weit gehen, dass öffentlich Stimmung gemacht wird gegen Flüchtlinge und Asylbewerber! Wir sind ein starkes und reiches Land. Unsere Politiker müssten dem Volk die Angst nehmen und sich mal hinstellen und laut sagen: Leute, das schaffen wir, diese Probleme lösen wir gemeinsam."
Engagiert wie selten: Til Schweiger in der BERLINER ZEITUNG.
Engagiert wird immer: der Philosoph Slavoj Zizek, der unter dem typisch Zizekschen Titel "Ekstatische Energien" in der Wochenzeitung DIE ZEIT über Griechenland nachdachte. Und näher darüber, was die Unterwerfung der Syriza-Regierung unter die EU-Sparpolitik für die Linke als solche bedeutet – nämlich: Eine Probe, wie sie im globalen Kapitalismus an der Macht bleiben könne.
Allein, kaum lag die ZEIT am Kiosk, trat der linke Regierungschef Alexis Tsipras zurück, Neuwahlen sind absehbar.
Zizekianer konnten sich aber mit dem WELT-Artikel trösten: "Was Laibach in Pjöngjang wissen müssen". Darin gab der Großtexter im Blick auf das Konzert der slowenischen Band Laibach in Nordkorea "eine philosophische Einstimmung".
Tatsächlich drehte Zizek derart wild am intellektuellen Assoziationsglücksrad, dass wir zerebral ins Torkeln kamen und nun keine Paraphrase anbieten können.
Klipp und klar dagegen Herfried Münkler. Der Politologe behauptete in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Wir sind der Hegemon" - und schloss die Warnung an: "Scheitert Deutschland an den Aufgaben der europäischen Zentralmacht, dann scheitert Europa."
Unwiderstehliche Argumente bot Münkler nicht – trotzdem druckte die FAZ den kurzen Artikel als Feuilleton-Aufmacher.
Wie auch Niklas Maaks "Die Wippe auf der Kippe", eine böse-belustigte Attacke aufs geplante Einheitsdenkmal in Berlin, das sich bei Volksbewegungen auf der Waage-Rampe hin und her wiegen soll.
"Der Wippeffekt [so Maak] ist symbolpolitisch nicht über alle Zweifel erhaben […]: Was passiert, wenn in Deutschland zu viele Leute in eine Richtung gehen? Es geht bergab! Mag sein, dass darin unfreiwillig Wahrheit liegt, so wie das ganze Denkmal in seinem kirchentagshaften Antiindividualismus, der dem Einzelnen da oben bekundet, dass er dort nur steht, weil die Masse unten ihn hält, vielleicht ein realistisches Bild der desolaten ästhetischen und politischen Zustände in der Berliner Republik abgibt."
Apropos desolate Zustände! Mächtig zur Brust nahm sich die TAGESZEITUNG Franz Josef Strauß, einst bayerischer Ministerpräsident.
TAZ-Autorin und Schriftstellerin Petra Morsbach stützte sich auf Wilhelm Schlötterers Beststeller Macht und Missbrauch von 2009 und fegte los wie folgt:
"Schlötterers exakt dokumentierte Untersuchung schildert eine korrupten Potentaten, der gegen gewaltige Bestechungssummen Milliardäre und Millionäre vor Steuer und Strafverfolgung schützte, ungezählte Millionen Schmier- und Schwarzgelder, Parteispenden und illegale Provisionen beiseiteschaffte […], der sich von Geschäftsfreunden Prostituierte und Kellnerinnen zuführen ließ […], der Urlaube, Privatflüge und Juwelen für seine Frau als Geschenke von Unternehmen forderte. Er belog Volk, Landtag und Bundestag. […] Er soff [auch] derart, dass er einmal vollgepisst zu einer Fernsehaufzeichnung kam."
Warum wir das zitieren?
Nun, Anfang September ist der 100ste Geburtstag des Obergauners FJS – und der TAZ-Artikel war ein starker vorzeitiger Kontrapunkt zu den absehbar-bayerischen Huldigungen auf den Volkstribun. -
Wie es scheint, liebe Hörer, mögen Sie Presseschauen ganz gern. Und deshalb denken Sie jetzt womöglich genau das, was in der WELT Überschrift wurde: "Ach kommen Sie, einen haben Sie doch noch!"
Dazu sagen wir nur zwei Worte: Von wegen!