Aus den Feuilletons

Aphasische Zombies und Mommy Horror

Schüler schreiben SMS und telefonieren am 22.04.2013 auf einem Schulhof in Braunschweig (Niedersachsen).
© picture alliance / dpa
Von Arno Orzessek · 16.08.2014
Nachrufe auf zwei große Schauspieler, die Amazon-Debatte und die ersten Verrisse von Judith Hermanns voraussichtlichem Bestseller haben die Feuilletons dieser Woche gefüllt.
"Sie geistiger Waterboarder!" –
beschimpfte Hans Zippert, der Kolumnist der Tageszeitung DIE WELT, den Amazon-Chef Jeff Bezos...
Und überhäufte ihn mit Vorwürfen:
"Sie [Jeff Bezos] haben Hunderte, Tausende, wenn nicht gar Hunderttausende Schriftstellerexistenzen vernichtet. Schuld daran sind Ihre unverantwortlichen Praktiken, die darauf abzielen, das literarische Leben, wie wir es kennen, zu zerstören. Ich könnte Ihnen manipulierte Empfehlungslisten, wahnsinnige Rabattforderungen und verzögerte Auslieferung missliebiger Verlage vorwerfen, aber das machen schon die anderen. Ich kritisiere vor allem, dass Amazon sich verbrecherischer Praktiken bedient, die gegen Menschen- und Schriftstellerwürde verstoßen. Es sind Foltermethoden, die allen völkerrechtlichen Konventionen Hohn sprechen."
Unterzeichnet war das Pamphlet in der WELT mit "Ihr besorgter und verzweifelter Hans Zippert".
Skeptisch gegenüber den digitalen Profitmaschinen US-amerikanischer Bauart zeigte sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG auch Robert P. Harrison, der in Stanford Kulturwissenschaften lehrt.
"Ich habe Teenager, gestern noch überschwenglich, eloquent, interaktiv und vor Persönlichkeit strotzend, nach drei Monaten Smartphone- oder iPad-Besitz zu aphasischen Zombies werden sehen. Der junge Wein stirbt noch an der Rebe, und Dionysos, der tellurische Gott der Ekstase, ist nirgends in Sicht."
Andererseits, fügen wir hinzu, können die "aphasischen Zombies" heute wenigstens googeln, was "aphasisch" meint, nämlich sprachgestört, und genauso, was es mit dem alt-griechischen Lustmolch und Feierbiest Dionysos auf sich hatte.
Dass die Digitalität des Zeitalters Spuren im Gehirn hinterlässt, haben wir übrigens selbst am Mittwoch beim Aufschlagen der NEUE ZÜRCHER ZEITUNG bemerkt.
Wir lasen unwillkürlich "Durch die Hintertür grinst Google" und brauchten, dann doch leicht irritiert, zwei Anläufe, um zu verstehen, was da wirklich stand.
Nämlich: "Durch die Hintertür grinst Gogol" – also jener russische Autor der "Toten Seelen".
Soviel zur Kulturkritik, die heute ja zu weiten Teilen Digitalkritik ist. Nun zu altmodischen Nachrufen.
"Sie regierte mit einem Blick",
schwärmte Willi Winkler in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG über die Schauspielerin Lauren Bacall...
Die in Howard Hawks "Haben und Nichthaben" Humphrey Bogart mit einem sehr sparsamen Augenaufschlag – berühmt geworden als „the look" - aller unschuldigen Gedanken beraubt.
Die beiden wurden eines jener Traumpaare, deren Ruhm selbst noch das Whatsapp-Zeitalter kennt.
"Bacall ohne Bogart geht nicht [hielt Winkler fest], aber sie war ein Star, ein Star neben, mit und noch lange nach Bogart, der letzte Star vielleicht, den sich Hollywood gegönnt hat. Lauren Bacall konnte übrigens nicht nur rauchen wie sonst keine, sondern auch unglaublich dreckig lachen. [...] Bye, Betty."
Nicht weniger ehrerbietig, aber etwas handfester: der Nachruf von Julia Teichmann in der BERLINER ZEITUNG.
"Als flachbrüstiges, großfüßiges, schlaksiges Ding hat sich Lauren Bacall selbst einmal beschrieben. Diese Diagnose zeugt schon von der Eigenschaft, die sie – jenseits aller anderen Merkmale – so unverwechselbar machte: Ihre Fähigkeit zur Selbstironie, ihre spöttische Intelligenz, gepaart mit der Eleganz eines richtig getimten Understatements."
Das sind Eigenschaften, die auch Robin Williams, dem zweiten großen Feuilleton-Toten der vergangenen Woche, nicht fremd waren, die aber oft von bewegter Unruhe überdeckt wurden.
"Rettung war nur im Witz", bemerkte Peter Kümmel in der Wochenzeitung DIE ZEIT und erklärte mit skeptischem Unterton:
"In einer Prosaskizze hat Elias Canetti die Figur des Gefährlichen Schläfers erfunden – das ist ein Mann, der nur in riskanten Situationen Schlaf findet. Etwa auf Dachfirsten oder am Rand des Abgrunds. So war wohl auch Robin Williams: einer, der um sich her Gewitter, Chaos, Gelächter produzieren musste, um es auf der Welt auszuhalten – der Mann als sein eigener Entertainer, nie wissend, wohin der nächste Einfall ihn führen würde. Zur Ruhe kam er jeweils nur für Blitzsekunden, in der Pointe des Augenblicks. Er ruhte sich aus im Gelächter der anderen."
Apropos Witz! Laut BERLINER ZEITUNG hat Williams gelästert: "‚Kokain ist Gottes Art, dir zu sagen, dass du zu viel verdienst.'"
Oder, nachdem er für Jahre von der Flasche losgekommen war: "'Ich habe meine Entziehungskur in einer Weingegend gemacht, um mir alle Optionen offen zu halten.'"
Wir sagen ‚Adieu, Robin, früher hat's oft Spaß gemacht'...
Und widmen uns einer lebenden Künstlerin, die laut SZ "Besser als Maria Callas" singt.
Opernfreunde ahnen es: Ein weiteres Mal hat Anna Netrebko Höchstnoten abgeräumt, nun für ihre Rolle in Giuseppe Verdis "Trovatore", inszeniert von Alvis Hermanis bei den Salzburger Festspielen.
Wobei Hermanis den Schauplatz in ein Museum verlegt hat und die von Netrebko gespielte Leonora als Wächterin auftreten lässt.
Peter Hagmann zeigte sich in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG hingerissen:
"Die Diva wurde [...] geradewegs zur Nachbarin: zu der ganz normalen jungen Frau von nebenan mit langem, dunkelblondem Haar und Brille – die aber, kaum hatte sie den Mund geöffnet, fürwahr göttliche Töne von sich gab. Mit einer gerundeten, ganz in sich ruhenden, ebenmässig klingenden Stimme, mit einem satten, etwas tief in der Kehle verankerten Forte und der mutigen Pflege eines farblichen Piano-Bereichs."
Was immer es mit dem "etwas tief in der Kehle verankerten Forte" auf sich hat – Peter Hagmanns Formulierung klang bestechend. –
Nicht so richtig auf der Höhe der Kunst scheint dagegen Judith Hermann zu sein.
Zwar überschrieb die TAGESZEITUNG ihre Kritik von Hermanns neuem Roman "Aller Liebe Anfang" mit "Chronik eines angekündigten Bestsellers", schränkte aber ein:
"Wenn erotische Fantasien von der Flucht aus dem eigenen Bürgerinnentrott Mommy Porn genannt werden, dann sollte man bei dieser literarisierten Stalkerfantasie von Mommy Horror sprechen."
Ijoma Mangold wollte in der ZEIT sogar tätlich werden:
"Man würde gern die Form dieses Romans zerschlagen, damit seine Figuren und ihre Schöpferin wieder atmen können."
Nun denn, liebe Hörer. Bleiben Sie bitte, mit einer Überschrift der BERLINER ZEITUNG, "Superschlau und superfit."