Aus den Feuilletons

ABC der deutschen Leitkultur

Ein Mottowagen zeigt beim Rosenmontagszug in Köln in Form künstlicher Figuren die Karikatur zweier Frauen beim Sex.
Unter C wie "Christentum" heißt es im Leitkultur-ABC der "taz": Trotz aller Strafandrohungen in der Bibel kann in Deutschland nahezu jeder mit jedem ins Bett gehen. © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Tobias Wenzel · 12.11.2015
Um Flüchtlingen Orientierung zu bieten, hat die "taz" ein nicht ganz ernst gemeintes ABC der deutschen Leitkultur zusammengestellt. Dabei geht es unter anderem um Christentum und Sex.
"Da Sie nunmehr im Land der Dichter und Denker leben, kann es nicht schaden, wenn Sie in Gesprächen unter Freunden Kants kategorischen Imperativ oder Heisenbergs Unschärferelation wie beiläufig erwähnen", heißt es unter P wie "Philosophie" im augenzwinkernden ABC der deutschen Leitkultur. Das hat Alem Grabovac für die TAZ zusammengestellt, um Flüchtlingen Orientierung zu bieten. Unter C wie "Christentum" heißt es:
"Für die meisten deutschen Christen ist ihr Glaube eher eine ornamentale Dekoration. Diese Ornamentalistik des Glaubens hat dazu geführt, dass, ungeachtet aller Strafandrohungen in der Heiligen Schrift, in diesem Land nahezu jeder mit jedem ins Bett gehen kann."
Wirtschaftliche Interessen statt Wertegemeinschaft bei der EU
Um für die Seligsprechung des deutsch-französischen Politikers Robert Schuman zu kämpfen, ist in Frankreich gar ein Institut gegründet worden. Daran erinnert Wolf Lepenies in der WELT. Schuman, einer der Väter der EU, habe gesagt, er wolle "eine neue Kathedrale […] bauen". Auch Charles de Gaulle habe beim Gedanken an ein vereintes Europa "Quelle cathédrale!" ausgerufen. "Die sakrale Gründungsrhetorik der EU ist bis heute wirksam geblieben. Sie wird noch in der säkularen Variante erkennbar, die EU sei eine Wertegemeinschaft", schreibt Lepenies.
Von dieser Wertegemeinschaft werde nun verstärkt in der Flüchtlingskrise geredet. Dann entlarvt der Autor die Rhetorik der EU-Väter. Hinter der hätten sich nur "handfeste wirtschaftliche Interessen" verborgen. De Gaulle habe Europa vor allem als Absatzmarkt für überschüssige Produktion französischer Agrarprodukte nutzen wollen, dies klar gesagt und außerdem folgende Sätze:
"[…] man kann auf seinem Stuhl hochspringen wie ein Zicklein und rufen: Europa. Europa. Europa. Aber das führt zu nichts und bedeutet nichts."
Das Fazit von Wolf Lepenies in der WELT:
"[…] schmerzhaft deutlich wird […], dass das vereinte Europa keineswegs zu einer Wertegemeinschaft geworden ist, sondern ein Zweckbündnis geblieben ist, in dem im Krisenfall die einzelnen Länder ihre nationalen Ziele verfolgen. Das vereinte Europa: Eine Kathedrale? Vielmehr ein von Egoismen getriebener Markt der Interessen."
Vulgäre Äußerungen der russischen Regierung zum Flugzeugabsturz
"Lasst uns lieber von den sittenlosen französischen Karikaturisten reden", um von der unangenehmen Möglichkeit abzulenken, dass der jüngste Absturz des russischen Flugzeugs von Terroristen verursacht wurde, denken sich, dem Artikel von Elena Servettaz in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zufolge, wohl die Mitglieder der russischen Regierung. Der Sprecher des Kreml habe die Karikaturen von "Charlie Hebdo" zum Flugzeugabsturz als "konsequente Sittenlosigkeit" bezeichnet. Das sieht die SZ-Autorin anders:
"Vulgär ist in meinen Augen allerdings, wenn Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministers, nicht einmal eine Woche nach dem Absturz der Maschine ein Selfie mit Pilotenmütze postet mit der Frage: 'Wer mag mal eben nach Paris mitfliegen?' Sacharowa fragt dann: 'Ist jemand noch Charlie?' In den Kommentaren dazu fragen die Menschen nicht nach dem Fortschritt der Ermittlungen, sondern bedauern es, dass nicht alle Charlie-Journalisten im Januar umkamen",
schreibt Elena Servettaz. Man könne Karikaturen "geschmacklos" finden, aber man dürfe sich doch nicht "über den Tod ihrer Zeichner freuen". Die Autorin verweist in ihrem Artikel auf Journalisten, die in Russland ermordet oder überfallen wurden. Und auf Täter, die bekannt seien, aber nicht festgenommen würden, "solange es in Russland keine Zeitschrift wie Charlie Hebdo" gebe.
Über Täter und Mörder spricht auch Alem Grabovac in der TAZ, in seiner nicht ganz ernst gemeinten Handreichung für Flüchtlinge, dem ABC der deutschen Leitkultur. X wie "Xenophobie":
"Bis vor Kurzem haben zwei junge Männer und eine junge Frau mit Vorliebe türkischstämmige Muslime abgeknallt. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Die zwei jungen Männer sind tot und die junge Frau sitzt im Knast."
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