Aus dem Albtraum aufgewacht?

Von Lisa Weiß · 22.10.2013
Die Rasulis führen auf den ersten Blick fast ein normales Leben in Kempten. Doch der Albtraum, den die afghanische Familie im letzten Jahr durchleben musste, ist noch längst nicht vergessen.
"Eine Küche, schöne Küche und Herd und Spülmaschine und eine Kühlschrank und eine Wohnzimmer mit eine Fenster und Blumen."
Stolz zeigt Shanaz Rasuli ihre neue Wohnung. Die sieht noch recht leer aus, in den Zimmern stehen nur Betten und Schränke. Kein Sofa, kein Esstisch, aber alles ist frisch gestrichen und sauber, es gibt Rückzugsorte für Eltern und Kinder – definitiv besser als das kleine Zimmer im Asylbewerberheim in Kempten, in dem die fünfköpfige Familie über ein Jahr lang gewohnt hat.

Der neunjährige Erfan tollt mit seiner jüngsten Schwester Mellila durchs Kinderzimmer der Mädchen, er spricht mittlerweile sehr gut Deutsch. Später wird er zum Fußballtraining gehen. Sein größter Wunsch: Einmal ein Fußballspiel des FC Bayern München sehen. Und die vierjährige Maryam freut sich schon, morgen geht es wieder in den Kindergarten

"Hier hab ich eine Freundin."

"Wie heißt die denn?"

"Anastasia"

"Und was spielt ihr dann zusammen?"

"Spiele."

Für ihre Eltern, Shanaz und Ahad Rasuli ist es nicht ganz so leicht, Anschluss zu finden hier in einer deutschen Wohnsiedlung, wo alles so anders ist als in ihrer Heimat Afghanistan. Aber auch Shanaz Rasuli hat schon erste Kontakte geknüpft:

"Vorgestern meine Nachbar kommt meine Wohnung und zusammen trinken Kaffee und eine Stunde sprechen."

Die Rasulis sind angekommen in Kempten, angekommen in Deutschland. Auf den ersten Blick führen sie ein fast normales Leben. Kein Vergleich zu dem Albtraum, den sie in den letzten Jahren durchlebt haben.

Rückblick, Februar 2012, Kempten, in der Asylbewerberunterkunft am Rübezahlweg:

"Es war früh am Morgen, noch vor sechs Uhr. Plötzlich sind Polizisten reingekommen, so acht bis zehn. Die Polizisten haben gesagt, schnell, schnell raus, die Kinder haben so große Angst bekommen, haben geschrien. Ich war geschockt, habe gezittert, ich habe gar nicht richtig verstanden, was sie von uns wollten. Sie haben uns wie Verbrecher behandelt. Als ich auf die Toilette musste, sind Polizistinnen mir gefolgt. Und Erfan, mein Sohn, hat den Polizisten auf Deutsch gesagt: Ich muss in die Schule. Und sie haben gesagt: Nein, du kommst weg."

Odyssee durch Rom
Die Rasulis waren vor den Taliban aus Afghanistan geflüchtet, hatten in Deutschland einen Asylantrag gestellt – über den wurde aber gar nicht erst entschieden. Stattdessen wurden sie ohne Vorwarnung in ein Flugzeug gesetzt, kamen wenig später in Rom an. Dort fühlte sich keiner für sie zuständig, sie landeten auf der Straße. Die Rasulis irrten durch Rom, ohne Geld, ohne Essen, ohne Wohnung, aber mit drei kleinen Kindern. Es war Winter, auch in Rom bitterkalt.

"Tagsüber waren wir in einem Park, es war schrecklich. Wir haben irgendwann einen jungen Afghanen getroffen, er hat uns erzählt, dass es eine Kirche gibt, in der man etwas zu essen bekommt. In der Nacht haben wir dort auch schlafen können, aber tagsüber mussten wir im Park bleiben."

Deutschland fühlte sich nicht zuständig für die Familie: Denn als die Rasulis aus Afghanistan geflohen waren, hatten sie sich über Italien nach Deutschland durchgeschlagen, waren dort von der Polizei kontrolliert worden. Und ein EU-Abkommen besagt: Ein Flüchtling muss in dem ersten EU-Staat, den er betritt, seinen Asylantrag stellen. Dass Italien mit dem Ansturm an Flüchtlingen völlig überfordert ist, dass Asylbewerber in Italien regelmäßig obdachlos werden – das zählt für das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge offenbar nicht.

Aber die Rasulis gaben nicht auf, schlugen sich noch einmal nach Deutschland durch. Und standen wieder vor dem gleichen Problem: Sie sollten wieder nach Italien zurückgeschickt werden – und das, obwohl Shanaz Rasuli und ihr Sohn Erfan durch die Flucht und die Rückschiebung nach Italien schwer traumatisiert waren.

Noch heute, über ein Jahr später, verfinstert sich das Gesicht von Shanaz Rasuli, wenn sie sich an diese Zeit erinnert.

"Sehr schwer für mich. Aber jetzt gut. Ruhig."

Eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland – wenn auch nur befristet
Auf Drängen ihres Flüchtlingsbetreuers in Kempten hat das Gesundheitsamt Shanaz Rasuli noch einmal untersucht. Und festgestellt: Sie ist durch die Erlebnisse auf der Flucht und in Italien psychisch krank geworden, so krank, dass sie nicht nach Italien reisen kann, um dort das Asylverfahren zu durchlaufen. Also durften die Rasulis in Deutschland ihren Asylantrag stellen, in Kempten bleiben, vorerst. Bei einer Ablehnung wären sie nach Afghanistan abgeschoben worden. Einige Monate mussten sie zittern. Im März 2013 hat die Familie dann endlich eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, freut sich ihre Anwältin, Ingvild Geier-Stadi:

"Das bedeutet, man hat der Familie geglaubt, dass eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben in Afghanistan besteht und ausschlaggebend waren die schwierigen Verhältnisse in Afghanistan, da hat das Bundesamt gesagt, glauben wir, dass eine Existenzsicherung sehr, sehr schwierig wird, insbesondere, weil Frau Rasuli ja psychisch auch erkrankt ist."

Das bedeutet aber noch nicht, dass die Rasulis für immer hierbleiben dürfen, sagt Ingvild Geier-Stadi. Die Aufenthaltserlaubnis ist befristet. Wenn sie abläuft, wird neu geprüft. Und wenn Afghanistan dann als ungefährliches Land gilt, müssen die Rasulis im Normalfall auch wieder dorthin zurück.

"Wenn’s mal ein bisschen besser wird, dann reicht das nicht, sondern es müsste wirklich sich abzeichnen, dass es sich dauerhaft grundlegend verändert insofern wird die Aufenthaltserlaubnis jetzt erst mal immer wieder verlängert."

Nach sieben Jahren könnten die Rasulis, falls sie dann genug Geld zum Leben verdienen, eine Niederlassungserlaubnis beantragen. Und dann für immer in Deutschland bleiben. Das ist eine Perspektive. Aber gleichzeitig ist es auch eine Herausforderung. Denn die Rasulis wollen und müssen sich jetzt integrieren, in eine Kultur, die ihnen völlig fremd ist. Vieles, was für Deutsche Alltag ist, ist für Ahad und Shanaz Rasuli aus Westafghanistan neu, sagt Flüchtlingsbetreuer Klaus Hackenberg.

"Was ist ein Kontoauszug? Wie funktioniert der Geldautomat? Dass der irgendwann ein Limit hat also nicht so die Assoziation ja da steck ich die Karte rein und dann krieg ich immer beliebig Geld. Wo in der Umgebung der Wohnung kann ich günstig einkaufen? Warum sollte ich die Raumtemperatur der Wohnung nicht durchgehend auf 30 Grad halten?"

Bei solchen Fragen steht Rosmarie Wagner der Familie zur Seite. Gemeinsam mit ihrem Mann betreut die Rentnerin ehrenamtlich die Rasulis, setzt dafür unzählige Stunden ihrer Zeit und viel Herzblut ein. Schon die Wohnungssuche war sehr schwierig, sagt Rosmarie Wagner:

"Wenn ich Zeitungsannoncen studiere, und ich rufe da an, dann merken Sie es fällt die Klappe runter. Ausländer, Afghanen? Nein, wir haben vermietet."

Erst nach vielen Telefonaten konnte sie eine große Genossenschaft überzeugen, die Rasulis aufzunehmen. Aber die Arbeit wird nicht weniger, seufzt sie. Eben erst hat sie Shanaz Rasuli erklärt, wie eine Spülmaschine funktioniert, dann steht auch schon der nächste Behördengang an. Probleme mit Kita und Grundschule klärt sie ebenfalls. Shanaz Rasuli und ihr Mann Ahad sprechen einfach noch zu wenig Deutsch dafür. Den Spagat zu schaffen zwischen Hilfe und Bevormundung ist nicht einfach, sagt sie. Besonders beim Thema Geld. Das ist auch bei den Rasulis knapp, die Familie bekommt jetzt Hartz IV.

"Das ist ein ganz schwieriges Kapitel, ein sehr sensibles Thema. Da kann man sich auch ganz schlecht einmischen. Die Miete wird ja bezahlt, aber Strom für ne fünfköpfige Familie, der Abschlag: 80 Euro. Und dadurch dass die Wohnung eine Genossenschaftswohnung ist, mussten auch Genossenschaftsanteile erworben werden. Dann kam uns das Jobcenter mit nem Darlehen entgegen, das muss abgestottert werden."

Ohne Deutsch kein Job
Bis jetzt schaffen es Shanaz und Ahad Rasuli zwar einigermaßen über die Runden zu kommen. Aber die Versuchung, Schulden zu machen, ist groß: Hier in Deutschland liegt all das in den Läden, von dem sie jemals geträumt haben. Und noch viel mehr. Zwielichtige Angebote gaukeln problemlose Kredite vor. Shanaz Rasuli betont in diesem Zusammenhang immer wieder: Sie will arbeiten, nicht vom Staat abhängig sein. Am liebsten als Krankenschwester oder Altenpflegerin, sie will Menschen helfen, dem Land, das sie aufgenommen hat, etwas zurückgeben. Und natürlich: Nicht mehr vom Jobcenter abhängig sein. Aber das wird noch einige Zeit dauern, sagt Flüchtlingsbetreuer Klaus Hackenberg.

"Für ne fünfköpfige Familie aus Afghanistan, die am Anfang steht und jetzt Integration macht, ist es zurzeit ein Unding, das ist einfach finanziell nicht machbar. Weil egal, wo ich was arbeiten will, Voraussetzung sind deutsche Sprachkenntnisse, das ist das A und O, ohne deutsche Sprachkenntnisse geht gar nix."

Das nächste Ziel ist für Ahad und Shanaz Rasuli also: besser Deutsch lernen. Auch dafür gibt es Hilfe vom Staat. Einen sogenannten Integrationskurs. Shanaz Rasuli konnte noch nicht anfangen, sie hatte bis vor kurzem noch keine Kinderbetreuung für ihre jüngste Tochter. Ihr Mann Ahad geht schon seit einiger Zeit regelmäßig zum Kurs.

Alte Frauen mit Kopftuch stehen neben jungen arabischen Männern im Halbkreis um die Tafel. Der Grammatikunterricht ist in der Lingua Viva Sprachenschule für heute vorbei. Jetzt spielen die Teilnehmer des Integrationskurses Galgenmännchen – mit einfachen deutschen Wörtern. Einer überlegt sich ein Wort und malt die Anzahl der Buchstaben an die Tafel, die anderen raten.

Auch Ahad Rasuli wirft immer wieder einen Buchstaben ein, versucht mitzuraten. Soweit das mit seinen Deutschkenntnissen eben geht:

"Ja diese Deutsch sehr schwer."

Der Erfolg hängt von der Begabung ab und davon, ob man schon eine andere europäische Fremdsprache beherrscht, sagt Lehrerin Beatrice Falk. Was das Lernen und Lehren zusätzlich schwieriger macht: Die Teilnehmer haben ganz unterschiedliche Vorkenntnisse.

"Es gibt welche, die Nullsprecher sind der deutschen Sprache und es gibt einige, die schon sehr gute Kenntnisse haben der deutschen Sprache, aber dann nicht schreiben können."

Beatrice Falk bemüht sich, auf alle einzugehen. Mal hilft sie den einen dabei, die Buchstaben zu entziffern, mit den anderen liest sie kurze Texte, diskutiert. Sie spricht im Kurs nur Deutsch, wiederholt das Gelernte häufig, versucht Gruppenarbeiten. Ihre Schüler lernen im Kurs auch die deutsche Kultur kennen. Und meistens ist der Erfolg auch sichtbar, sagt sie:

"Nach fünf Monaten sind sie in der Lage allein einkaufen zu gehen, Kontakte zu knüpfen und sich frei zu bewegen. Aber es gibt auch immer wieder Missverständnisse. Weil sie eben nicht alles richtig verstehen, was sie hören."

Ziel: Level B1
Viele der Kursteilnehmer sind Flüchtlinge, die vorerst hier bleiben dürfen so wie die Rasulis. Um vielleicht irgendwann in ferner Zukunft Deutsche werden zu können, müssen sie einigermaßen gut Deutsch können. In der Amtssprache heißt das: mindestens Level B1. Dieses Niveau sollten eigentlich die Teilnehmer am Ende des Integrationskurses haben. Also nach 600 Unterrichtsstunden beziehungsweise 900, wenn sie noch die Schrift lernen müssen. Aber in dieser Zeit das Level B1 zu schaffen, ist für die meisten illusorisch, sagt Astrid Keller aus der Schulleitung.

"Und dann kann man nochmal 300 Stunden beantragen, wenn man dieses Level B1 nicht erreicht hat, was der Normalfall ist. Also Teilnehmer in diesen Kursen brauchen in der Regel dies 1200 Stunden und dann hat ein Teil der Klasse diesen Level B1 erreicht, der für die Einbürgerung notwendig ist."

Der Rest muss sich selbst um weitere Kurse kümmern. Manche schaffen es nie: Gerade Frauen, die in ihrer Heimat nicht die Schule besucht haben, haben ganz schlechte Chancen.

Zurück zur Wohnung der Familie Rasuli. Der kleine Erfan übersetzt für seine Eltern das, was Betreuerin Rosmarie Wagner gerade auf Deutsch erklärt hat. Für sein Alter muss er viel Verantwortung übernehmen. Für seine Eltern ist er oft der Mittler zwischen den Kulturen. Manchmal ist das alles zu viel für ihn, gerade die Rückschiebung kann er nicht vergessen: Lange Zeit hat er jeden Morgen, wenn er zur Schule ging, gefragt: Mama, Papa, seid ihr noch da, wenn ich zurückkomme? Er geht deshalb regelmäßig zu einem Jugendpsychiater. Aber andererseits gefällt ihm auch die Aufmerksamkeit, die er bekommt. Stolz zeigt er auf eine improvisierte Pinnwand:

"Des is für Termine …"

"Warum habt ihr da so ein Brett aufgehängt?"

"Weil meine Mutter vergisst manchmal."

"Ich Tabletten nehmen ich manchmal vergessen. Arzt hat gesagt ja, normal für diese Tablette."

Aber Shanaz Rasuli möchte die Tabletten noch nicht absetzen, sie möchte sich nicht wieder in die verzweifelte Frau verwandeln, die sie vor einem Jahr war. Damals hatte sie Selbstmordgedanken. Nur mit Medikamenten bewältigt sie momentan den Alltag. Einigermaßen. Denn immer noch quälen sie die Erinnerungen an Afghanistan, an die Polizei im Asylbewerberheim, an den Winter in Italien:

"Kommt! Nicht vergessen. Alles kommt. Ich jetzt mit Tabletten bisschen ruhig, aber manchmal gut schlafen manchmal kommt meine Schlaf weg, bis fünf. Ich Bett und nicht schlafen. Denken, denken."

Shanaz und Erfan Rasuli sind schwer traumatisiert. Doch bis sie Hilfe bekommen haben, war es ein weiter Weg. Jetzt, mit der Aufenthaltserlaubnis, ist das kein Problem mehr – über das Jobcenter sind sie gesetzlich krankenversichert, auch Psychotherapien werden bezahlt. Aber als ihr Asylantrag noch lief, war das anders: Asylbewerber dürfen nämlich nur zum Arzt "zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände", so steht es im Gesetz. Sind Selbstmordgedanken eine akute Erkrankung? Einige Landkreise sehen das nicht so, sagt Jürgen Soyer von Refugio München, einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer.

"Wir haben bis dato vor allem in Niederbayern das Problem, das eigentlich nichts bewilligt wird. Wir haben dem Bayerischen Sozialministerium das Problem geschildert, sie haben es zumindest ernstgenommen und sagen, sie kümmern sich drum, es hat sich aber seitdem noch nichts getan."

Das Sozialministerium hat nach eigener Aussage den Vorgang an das Gesundheitsministerium weitergereicht – dieses Ministerium sei zuständig. Das sieht das Gesundheitsministerium anders: Das sei hauptsächlich Sache des Sozialministeriums, man helfe nur bei den Gutachten. Niemand scheint sich zuständig zu fühlen.

Die psychischen Probleme der Familie Rasuli sind sicher entstanden durch die gefährliche Flucht, durch die Geschehnisse in Afghanistan, sagt Jürgen Soyer von Refugio München. Aber die Europäische Union hat durch ihr Abkommen die Probleme sehr wahrscheinlich verschlimmert: Rückschiebungen in andere EU-Staaten hinterlassen ihre Spuren, meint Soyer:

"Weil das sind alles Menschen, die deswegen traumatisiert sind, weil in ihrem Leben plötzlich ein Ereignis hereingebrochen ist, was ihnen die Sicherheit im Leben genommen hat. Eine Abschiebung ist einfach was, was genau wieder dieses Gefühl bestärkt, nicht in Sicherheit zu sein. Deswegen sprechen wir auch oft von einer Retraumatisierung."

Einen Lichtblick gibt es: Dass wie bei der Familie Rasuli Polizisten ohne Vorwarnung einfach morgens in der Unterkunft stehen, sollte mittlerweile nicht mehr möglich sein. Denn Rückschiebungen müssen seit ein paar Wochen vorher angekündigt werden, selbst wenn es nur in ein anderes vermeintlich sicheres EU-Land wie Italien geht. Eigentlich ein Fortschritt, sagt auch Alexander Thal vom bayerischen Flüchtlingsrat.

"Das Problem ist, das Ausländerrecht ist so verzwickt, dass sich damit kaum jemand auskennt. Es gibt in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf eine Rechtsberatung für Flüchtlinge. Es gibt auch keine kostenlosen Rechtsanwälte, es gibt keine Prozesskostenhilfe oder ähnliches, deswegen werden nur wenige Flüchtlinge tatsächlich auch rechtsanwaltlich vertreten."

Und so ist die Gesetzesänderung zwar ein guter Anfang – die Probleme mit dem Dublin-Abkommen sind dadurch aber noch lange nicht gelöst.

Und das ist nicht die einzige Baustelle, die es gerade in Bayern in der Asylpolitik gibt, sagt Alexander Thal. Zum Beispiel die Residenzpflicht: Asylbewerber und Geduldete dürfen in Bayern ihren Regierungsbezirk normalerweise nicht verlassen. Wer von München nach Nürnberg will, braucht eine Sondergenehmigung. Oder die überfüllten Gemeinschaftsunterkünfte, in denen viele Flüchtlinge leben müssen, sagt Jürgen Soyer:
"Was wir hier bei Refugio sehr oft haben als Problem, was in der Therapie oft auftaucht sind die Essenspakete. Die Tatsache, dass Menschen, die ja oft nicht arbeiten dürfen oder können, nicht einmal die Möglichkeit haben, ihren Tag mit Einkaufen zu gestalten, sondern einfach noch vorgesetzt bekommen das Essen, das nimmt ungemein viel Freiheit den Menschen."

Asylpolitik – ein bisschen menschlicher
Dieses sogenannte Sachleistungsprinzip soll bald flexibler gehandhabt werden, verspricht das bayerische Sozialministerium. Bayerns Asylpolitik ist in den letzten Jahren menschlicher geworden: Zum Beispiel wurden viele heruntergekommene Gemeinschaftsunterkünfte renoviert oder geschlossen; Familien dürfen schneller in eine eigene Wohnung ziehen. Selbst die Residenzpflicht wurde ein bisschen gelockert – früher mussten die Flüchtlinge schon um Erlaubnis bitten, wenn sie den Landkreis verlassen wollten und für die Genehmigung sogar noch bezahlen. Es gibt mittlerweile Deutschkurse für Asylbewerber – damit ist Bayern bundesweit vorn dabei. Das ist ein Fortschritt, sagt auch Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Ihm macht allerdings das Ergebnis der Landtagswahl in diesem Herbst Sorgen. Die CSU hat jetzt wieder die absolute Mehrheit, die CSU-FDP-Koalition ist damit Geschichte:

"Die FDP war in dem Fall in den letzten fünf Jahren tatsächlich sehr hilfreich, weil wir damit jemanden in der Regierung hatten, die gegen die sehr harte CSU-Linie Widerstand geleistet hat in der Regierung. Das hat sich jetzt erübrigt. Jetzt kann das nur noch die Opposition machen, und das macht‘s nicht einfacher."

Es ist Teezeit. Die Rasulis sitzen im Schneidersitz auf dem Teppich im Wohnzimmer, die vierjährige Maryam schläft friedlich im Arm ihrer Mutter. Die Rasulis in Kempten hatten Glück. Viel Glück. Ihre Geschichte ist alltäglich, ist die Geschichte vieler Flüchtlinge aus Afghanistan und anderen Ländern, die fliehen müssen und von den Behörden hin- und hergeschoben werden. Nur das positive Ende der Geschichte ist ungewöhnlich. Weil viele Leute Anteil an ihrem Schicksal genommen haben, viel Zeit investiert haben, um ihnen zu helfen, sind sie noch in Deutschland. Nur deshalb kann Shanaz Rasuli leben, neue Pläne fassen, in Deutschland heimisch werden. Sie will dazugehören, will sich integrieren. Und die Freiheiten genießen, die sie als Frau in Deutschland hat. Ihr Kopftuch trägt sie nicht mehr, stolz schüttelt sie die langen schwarzen Haare.

"Eine Frau muss Herz gut. Nicht Kopftuch. Nicht immer Zimmer sitzen und kochen und Kinder aufpassen. Ich lieber gehen arbeiten und lernen Deutsch."

Ihre Kinder werden Deutsche werden, später einen guten Job finden, wenn sie sich anstrengen, hart arbeiten, da ist sich Shanaz Rasuli sicher. Und sie will alles dafür tun, ihre Kinder dabei zu unterstützen – alle drei, auch die Töchter. Sie sollen es einmal besser haben als sie selbst. Die Chancen dafür stehen gut. Noch vor einem Jahr war Shanaz Rasulis größter Wunsch: Einfach ein ruhiges Leben haben. Und obwohl es noch viele Schwierigkeiten in ihrem Leben gibt - ihr Wunsch hat sich erfüllt, sagt sie.

"Und jetzt für mich ruhig, für meine Kinder. Gottseidank."

Links:
Im Juli 2012 hat Lisa Weiß die Familie zum ersten Mal besucht: Morgens halb sechs in Deutschland