Aufzeichnungen eines Asphaltliteraten

16.10.2012
Im Februar 1945 beginnt der verfolgte Schriftsteller Erich Kästner Tagebuch zu führen – erst von Berlin aus, später aus dem Zillertal, wo er sich versteckt. Nüchtern und scharfsinnig reflektiert Kästner die anarchistische "Niemandszeit" des Kriegsendes.
Mayrhofen im Zillertal, Österreich. Gut 600 "Meter über der Adria", oder preußisch: über dem Meeresspiegel. Hierhin verschlägt es im März 1945 Erich Kästner - dessen Bücher im Mai 1933 verbrannt wurden, der seitdem bedroht ist und nur noch unter Pseudonym arbeiten kann. Denn jemand riskiert, "einem Asphaltliteraten vom Berliner Asphalt fortzuhelfen": Der UFA-Produzent Eberhard Schmidt macht ihn zum Drehbuchautor eines Films, mit dem sich eine ganze Crew in die ziemlich bombensichere "Ostmark" retten kann. Kästners Freundin Lotte kommt über Innsbruck nach.

Verfolgte Schriftsteller schreiben bekanntlich trotzdem: heimlich. Tagebuch, zum Beispiel, mini-stenografiert in einen Blindband mit blauem Umschlag, der "aufs sichtbarste verborgen" zwischen den anderen Bücher steht. Kästners Tagebuch beginnt am 7. Februar, noch in Charlottenburg. Ein Jahr zuvor sind die 4000 anderen Bücher samt dem Mietshaus verbrannt. Das "Blaubuch" überlebt in der Aktentasche, die er stets dabei hat, seit sich - wie der Berliner Galgenhumor spottet - Roosevelt und Hitler darauf geeinigt hätten, "dass jener die Flugzeuge und dieser den Luftraum zur Verfügung stelle."
Von Mitte März bis Mitte Juni, als sie sich ins amerikanisch befreite Bayern durchschlagen können, kleben sie in Mayrhofen fest, täuschen Dreharbeiten vor, hungern und warten auf das Ende. Die Tiroler Spießer machen ihren Reibach mit den "Preußen" und kaum Hehl aus ihrer Verachtung für Großstädter im Allgemeinen.

Aber der "Clash of Civilizations" ist noch die geringste Sorge. Kästner notiert das ganze kleinteilige Chaos im Alltag dieser "Niemandszeit". Szenen einer unheimlichen Harmonie zwischen Durchhalteparolen, widerlicher Wendehalsigkeit und slapsticktauglicher Überlebensschläue der "Reichs"-Bürger wechseln sich ab mit Reflexionen über die Psychologie des Untertanen, Analysen zur Weltpolitik, Gedanken über das Danach. Kästner legt den Asphaltblick im Zillertal nicht ab. Er bleibt scharfsichtig, nüchtern, auf Augenhöhe.

Ganz nebenbei ist Notabene 45 auch eine Hommage an den Rundfunk, die einzige noch funktionierende Informationsquelle, deren Propaganda sich immer leichter in echte Nachrichten übersetzen lässt. Der schöne Nebeneffekt: Ersetzt man Radio durch Twitter oder YouTube, bekommt man plötzlich eine lebhafte Vorstellung, wie sich Leben in aktuell untergehenden Diktaturen so anfühlt.

Kästners Aufzeichnungen aus dem kurzen Frühsommer der unfröhlichen Anarchie lesen sich heute auch wie Augenzeugenmaterial zur Historiografie über NS-Deutschland, den (Luft-)Krieg, das Ende. Er hat sie später transkribiert, um wenige wichtige Welt-Daten ergänzt und 1961 veröffentlicht. "Tagebücher", schreibt er im Vorwort, "präsentieren gewesenes Präsens." Dieses Präsens lebt da längst weiter als beunruhigende Vergangenheit. Für Kästner, den Seismografen ohne Pathos und Posaunen, heißt das: "Die Vergangenheit muss reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir keine Ruhe finden." Sein Tagebuch endet im August. Kurz danach, ergänzt er auch, fällt auf Hiroshima die erste Atombombe.

Besprochen von Pieke Biermann

Erich Kästner: Notabene 45 - Ein Tagebuch
Atrium Verlag, Zürich 2012
250 Seiten, geb., 19,95 EUR