Auftakt

Ein Zeppelin hütet die Schafe

Catherine Milliken (M) spricht als Madame Curie im Stück "De Materie" auf der Ruhrtriennale 2015
Catherine Milliken (M) spricht als Madame Curie im Stück "De Materie" auf der Ruhrtriennale 2015 © picture Alliance / dpa / Caroline Seidel
Von Stefan Keim · 15.08.2014
Die Ruhrtriennale 2014 startet mit Louis Andriessens Musiktheaterstück "De Materie", Castelluccis Maschinenballett und mehreren Installationen. Klar zu spüren auch in diesem Jahr: Heiner Goebbels verspielte Seite.
Ein Festival wie die Ruhrtriennale, sagt Heiner Goebbels, soll Aufführungen produzieren, wie es sie sonst nicht zu sehen gibt. - Ein hohes Ziel, das er in seinen ersten beiden Jahren als Intendant, oft erreicht hat. Im dritten Jahr hat er nicht an Ehrgeiz nachgelassen.
Mehrere Minuten lang gibt es nur Akkorde. Langsam wird der Rhythmus schneller. Louis Andriessen vereint in seiner Oper "De Materie" die verschiedensten musikalischen Stile. Mal klingt das Orchester wie eine Big Band, mal wie ein geistliches Ensemble. Ähnlich verfährt er mit dem Inhalt. Andriessens Stück hat keine Handlung. Es ist eine Art Musiktheateressay über das Verhältnis von Geist und Materie. Dabei verwendet Andriessen Beispiele aus der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte seiner niederländischen Heimat. Um 1600 entwickelt ein Forscher die Atomtheorie, der Maler Piet Mondrian hat gern getanzt, und der achtköpfige Chor skandiert einen Text über den Schiffsbau.
Dramatische Entwicklungen oder Gewichtungen gibt es nicht. Die Bestandteile der Oper stehen gleichwertig nebeneinander, ohne Bezug. Andriessens Stück ist enzyklopädisches Musiktheater, wie ein Blättern im Lexikon mit Musikbegleitung. Er zeigt die Disparatheit einer unüberschaubaren Welt, Jeder Versuch, sich zu orientieren, ist sinnlos. Man kann nur darstellen und bewahren, was es alles gibt. Und irgendwann damit aufhören. Nach knapp zwei Stunden und vier Teilen bricht das Stück einfach ab.
Aufführung in einer Kraftzentrale
Heiner Goebbels, der Intendant der Ruhrtriennale, hat für seine Inszenierung die größte Halle gewählt, die ihm zur Verfügung steht, die 170 Meter lange und 35 Meter breite Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Hier entwickelt er – wie schon in seinen vorigen Inszenierungen bei diesem Festival – verzaubernde Bilder voller Leichtigkeit, Poesie und Humor. Drei ferngesteuerte Zeppeline schweben durch die Halle, manchmal wird auf einen von ihnen Text projiziert. Im letzten Teil strömt eine Herde aus hundert Schafen hinein, gehütet von einem der Zeppeline. Für die Musik des zweiten Teils hat sich Louis Andriessen von der Architektur der Kathedrale in Reims anregen lassen. Statisten in schwarzen Kutten wirken mal wie Säulen, mal wie menschliche Gestalten.
Evgeniya Sotnikova singt mit klarem, hellem Sopran die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert. In ihre religiöse Verzückung mischen sich heftige erotische Fantasien. Diese Szene hat noch am ehesten mit einer traditionellen Oper zu tun. Heiner Goebbels will in seinen drei Jahren bei der Ruhrtriennale alternative Wege für das Musiktheater aufzeigen. Bisher ist ihm das überzeugend gelungen, mit den liebevoll inszenierten "Europeras" von John Cage und der schrägen Hippiefantaise "The Delusion of the Fury" von Harry Partch.
Auch "De Materie" hat hinreißende Momente. Aber auch langweilige Durchhänger. Ohne einen enormen szenischen Aufwand wie in Duisburg wäre das Stück kaum genießbar. Dirigent Peter Rundel und das Ensemble Modern Orchestra leisten wie alle Beteiligten Herausragendes. Dennoch hat das Stück deutliche Schwächen. Von Heiner Goebbels' Entdeckungen bei der Ruhrtriennale ist "De Materie" die schwächste.
Die verspielte Seite der Triennale
Der Ansatz, scheinbar Unzusammenhängendes einfach nebeneinander zu stellen, hat größeren Erfolg in der Videoinstallation "Eine Einstellung zur Arbeit". Der gerade verstorbene Filmemacher Harun Farocki und die Kuratorin Antje Ehmann sind einige Jahre durch die Welt gereist und haben Menschen gebeten, Kurzfilme über die Arbeit zu drehen. Höchstens zwei Minuten lang und ohne Schnitt, in nur einer Einstellung. Die Ergebnisse sind beachtlich. Einmal schaut die Kamera einem arbeitenden Mann ins Gesicht, und man sieht gar nicht, was er tut. Eine Museumswärterin sitzt vor ausgestopften Tieren, auf einer riesigen Baustelle bewegt sich träge ein Kran. Momentaufnahmen der Arbeit, wie sie in der Kunst selten vorkommen und perfekt zur Ruhrtriennale passen.
Das gilt auch für Romeo Castelluccis Idee, Strawinskys legendäres Ballett "Le Sacre du Printemps" als Maschinenballett zu inszenieren. Hinter einer durchsichtigen Wand drehen sie sich, fahren auf Schienen, kippen und wackeln. Aus ihnen fällt im Takt der Musik weißer Staub, Knochenmehl von Kühen. Das ist eine halbe Stunde lang spektakulär, mal elegant, mal wuchtig. Doch dann schließt sich plötzlich ein Vorhang, Und während die Musik zu Ende läuft, gibt es Erklärtexte über den Knochenstaub und die Idee der Aufführung. Wenn der Vorhang wieder aufgeht, fegen Arbeiter in Ganzkörperanzügen alles zusammen. Die Besucher schauen sich ratlos an. War´s das? Dann geht der erste, und die anderen folgen.
Zugänglicher in mehrfachem Sinne ist die Installation "Melt" auf der ehemaligen Hochofenstraße ds Landschaftsparks Duisburg. Die brasilianischen Künstler Rejane Cantoni und Leonardo Crecenti haben 50 polierte Aluminiumplatten auf Sprungfedern hintereinander montiert. Die Besucher gehen, laufen, tanzen darüber. Dabei entsteht Krach – und ein neues Raumgefühl. Denn die Platten führen durch einen Teil des Landschaftsparks Duisburg, einer ehemaligen Zeche. Unter Leitung von Heiner Goebbels hat die Ruhrtriennale immer auch eine verspielte Seite. In diesem Fall bei freiem Eintritt.
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