Aufklärung vs. Unfreiheit

Die Vernunft des Terrors

Ein Regenschirm mit der Aufschrift "Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit", aufgenommen bei einer Demonstration
Der Anspruch einer allumfassenden Freiheit ist in sich widersprüchlich, weil er genauso totalitär ist wie der Feind, gegen den er sich richtet, meint Matthias Gronemeyer. © picture alliance / dpa / Daniel Naupold
Von Matthias Gronemeyer · 24.11.2015
Die aufgeklärte, freie Gesellschaft wird den Terror genauso wenig besiegen können wie der Terror die Freiheit, sagt der Philosoph Matthias Gronemeyer. Denn beides seien zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mit Vernunft lasse sich der Terror daher nicht besiegen.
Sie haben es wieder getan: Terror im Herz der freien Welt, der aufgeklärten Welt. Und wir reagieren, beschwören die Einheit unserer Werte, werden Freiheiten einschränken und die sogenannten Ursachen des Terrors bekämpfen. Doch der nächste Anschlag wird kommen. Wir werden dieses Andere, das sich mit solcher Vehemenz gegen uns richtet, nicht besiegen können. Denn dieses Andere, das sind am Ende wir selbst. Die aufgeklärte Vernunft, die die Freiheitswerte der westlichen Welt hervorgebracht hat, und der Terrorismus, der sie zerstören will, sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Der erste Vernichtungsfeldzug der Geschichte
Um das zu verstehen, müssen wir zur gemeinsamen Wurzel von universeller Vernunft und Monotheismus zurück. Von diesen Anfängen des Glaubens an den einen Gott berichtet der biblische Abraham-Mythos. Die Sumerer hatten die Stadt Sodom überfallen und Abrahams Neffen Lot verschleppt. Als Abraham davon erfährt, eilt er mit einem kleinen Haufen seiner Schafhirten hinterher, überfällt das Heerlager in der Nacht, metzelt fast alle nieder und setzt den Flüchtenden so lange nach, bis der letzte getötet ist, auch der König.
In diesem ersten Vernichtungsfeldzug unserer Kulturgeschichte dokumentiert sich der Allmachtsanspruch des einen Gottes der Juden, Christen und Muslime, dokumentiert sich die Universalität des vernünftigen Gottes, der alles geschaffen hat. Dieser Universalitätsanspruch ist aber derselbe, den die aufgeklärte Vernunft auch für sich und ihre Menschenrechte reklamiert. Sie hat den vernünftigen Gott in den Gott der Vernunft überführt.
Terror und Aufklärung haben denselben Universalitätsanspruch
Wie sich der Totalitarismus der Vernunft in die totale Grausamkeit verkehren kann, hat das 20. Jahrhunderts gezeigt. Die Freiheit und die Unfreiheit stehen sich nicht als Feinde gegenüber, sondern in einer dialektischen Beziehung zueinander. Der Anspruch einer allumfassenden Freiheit ist in sich widersprüchlich, weil er genauso totalitär ist wie der Feind, gegen den er sich richtet. Was alles ist, ist zugleich nichts. Denn um Etwas zu sein, muss es immer ein Anderes geben. Im Terror und im Krieg gegen den Terror stehen sich nicht ein freiheitlicher Westen und ein unaufgeklärter Orient gegenüber, sondern auf beiden Seiten ein und derselbe Universalitätsanspruch, dessen innere Widersprüchlichkeit nun offen zutage tritt und der sich gegen sich selbst kehrt.
Wir sehen keinen zionistischen Terror, weil der bewaffnete Kampf seit Jahrzehnten verlässlich von der israelischen Armee erledigt wird. Wir sehen keinen evangelikalen christlichen Terror, weil die fundamentalistischen Jesus-Anhänger bestens in die westliche Ökonomie integriert sind. Dass der Terrorismus der jüngeren Zeit vorrangig islamistisch ist, liegt also nicht an einer prinzipiellen kulturellen Differenz. Bürgerkriege in vielen islamischen Ländern, mangelnde Integration in Europa und Hegemonie einer globalisierten Ökonomie sind nicht die Ursachen des Terrors – es sind die Umstände, die ihn begünstigen.
Die paradoxe Antwort auf Terror: weniger Vernunft
So richtig es ist, an diesen Umständen etwas zu ändern, so richtig es auch ist, den IS militärisch zu bekämpfen, eine dauerhafte Lösung ist es nicht. Wenn angesichts der Anschläge die Einheit der westlichen Wertegemeinschaft gegen den Fundamentalismus beschworen wird, dann droht diese Wertegemeinschaft sich mit ihrem Gegner gemein zu machen. Die Antwort auf den Terror sollte also nicht lauten: mehr Festigkeit, sondern: mehr Durchlässigkeit, mehr Vielfalt, mehr Differenz. Und auch wenn es paradox klingen mag: weniger Vernunft. Es war vielleicht unvernünftig, angesichts der realen und empfundenen Bedrohung die Grenzen für Zigtausende zu öffnen – aber es war genau das Richtige.
Und es wäre nach den Anschlägen von Paris wohl vernünftig, Angst zu haben. Ich habe keine.
Matthias Gronemeyer, Jahrgang 1968, ist Hochschuldozent für Philosophie, Autor und Publizist. In seinem Buch "Profitstreben als Tugend?" hat er sich mit den Notwendigkeiten und Grenzen des Kapitalismus auseinandergesetzt. Zuletzt erschien von ihm "Trampelpfade des Denkens - Eine Philosophie der Desorientierung", wo er den Zusammenhängen von Digitalisierung und Demenz nachspürt. Er lebt in Stuttgart.
Matthias Gronemeyer
Matthias Gronemeyer© Iris Merkle
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