Freitag, 29. März 2024

Archiv

Kongress in Potsdam
Führungskonzepte im Spiegel der Zeit

Kaiser Wilhelm, Hitler, die SED - welchen Einfluss hatten Führungskonzepte auf den Lauf der Zeit? Ein Kongress in Potsdam will mehr Licht ins Dunkel bringen und arbeitet sich durch mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Über eine Debatte, die auch im 21. Jahrhundert noch längst nicht abgeschlossen ist.

Von Andras Beckmann | 19.10.2017
    Kaiser Wilhelm II. mit seinen Söhnen. L-r) Kaiser Wilhelm II., Kronprinz Wilhelm, Prinz Eitel Friedrich, Prinz Adalbert, Prinz August Wilhelm, Prinz Oskar und Prinz Joachim in Uniform. (Undatierte Aufnahme). Der letzte deutsche Kaiser wurde am 27. Januar 1859 in Berlin geboren und ist am 4. Juni 1941 in Haus Doorn gestorben.
    Kaiser Wilhelm II (links) mit seinen Söhnen (picture alliance / dpa / Ullstein)
    "Wofür brauchen wir diesen Begriff heutzutage eigentlich noch? Irgendwie scheint der so aus der Zeit gefallen zu sein." Als die Göttinger Historikerin Franziska Rehlinghaus begann, sich mit dem Thema Führung zu beschäftigen, ahnte sie noch gar nicht, wie aktuell das ist.
    "Sobald man in die Wirtschaft geht, ins Militär, in die Beratung, in die Verwaltung auch: Überall wird Führung plötzlich wieder sehr wichtig gemacht. Wenn wir auf die Homepages von Universitäten gucken, die haben alle Führungsgrundsätze da stehen, mittlerweile. Ich frage mich wirklich: Wie ist das kompatibel mit unserem Gesellschafts- und unserem Staatssystem. Wir gehen doch eigentlich irgendwie davon aus, dass es nicht irgendwie um hierarchische Beziehungen geht: Wer bestimmt und wer gehorcht - aber trotzdem leben wir in einer Gesellschaft, die auf diesen Begriff nicht verzichten kann."
    "Alle suchen den großen Führer"
    Das gesamte 20. Jahrhundert war in Deutschland von der Suche nach Führung bestimmt. Anfangs hatten Groß- und Kleinbürger noch ihren Kaiser Wilhelm und die Proletarier ihren "Arbeiter-Kaiser" August Bebel. Im Ersten Weltkrieg versammelten sich alle hinter der schwarz-weiß-roten Fahne. Nach der Niederlage folgten Revolution und Chaos, berichtet Franziska Rehlinghaus.
    "Was man feststellen kann für die Weimarer Republik, ist, dass es eine Sehnsucht nach Führung gibt, die sich auch aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs speist, wo man das Gefühl hat, die Führung hat versagt und nun hat man dieses demokratische Staatssystem in Deutschland und sucht Orientierungspunkte. Und zwar in allen politischen Lagern. Es ist nicht nur eine völkisch-nationale Sehnsucht, die sich da offenbart, sondern auch die Sozialdemokratie, die Liberalen, reden von Führung. Alle suchen den großen Führer."
    Adolf Hitler hält während des Dritten Reiches (1933-1945) eine Rede. (Undatierte Aufnahme).
    Adolf Hitler hält während des Dritten Reiches (1933-1945) eine Rede. (Undatierte Aufnahme). (picture-alliance / dpa)
    Spätestens ab Anfang der 30er-Jahre bediente dann der Führer diese Sehnsucht. Adolf Hitler galt einer Mehrheit als Mann mit einer natürlichen Führungsbegabung, erläutert der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta. Und mit jedem seiner sorgsam inszenierten Auftritte bestätigte er in den Augen seiner Anhänger sein Charisma. "Hitler war jemand, der als Redner überhaupt politisch groß geworden ist. Viele haben sich ihre politische Karriere erschrieben, Hitler hat sie sich erredet. Hitler hat seine Reden selbst geschrieben, die Redetexte waren vorher nicht bekannt. Alle Welt starrte darauf, was Hitler sagen würde, und er hat ja Ungeheuerliches gesagt."
    Mythos von Hitlers Genie
    Die Wut, die er mit seinen Anhängern teilte und hemmungslos ausdrückte und sein schamloser Antisemitismus, mit dem er einen Sündenbock für nahezu alle gesellschaftlichen Probleme präsentierte, beförderten Hitlers Aufstieg und halfen ihm, seine Macht auch noch im Krieg zu festigen, als er seinem Volk immer mehr Opfer abverlangte.
    "Eigentlich muss ein charismatischer Führer die Beziehung zu seiner Gefolgschaft immer pflegen. Hitler hat das dann nicht getan. Dafür gibt es einen Grund: Nach Stalingrad, als es nur noch Niederlagen zu verkünden gibt, verstummt Hitler." Als Führer blieb er dennoch weitestgehend unangefochten.
    Dafür, sagt Wolfram Pyta, gab es einen Grund, der heute kaum noch nachvollziehbar erscheint. "Das war der Glaube an sein vermeintliches Genie. Also der Glaube in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung, dass Hitler über eine unbegrenzte Schöpferkraft verfüge, dass er noch einmal kurz vor Toresschluss mit der sogenannten Wunderwaffe das Schicksal zu Deutschlands Gunsten wenden würde. Und das Genie kann auch unsichtbar sein, weil der bloße Glaube an das Genie ausreicht."
    Adenauer und die Bundeswehr
    Statt zum versprochenen Endsieg führte Hitler das Deutsche Reich bekanntermaßen in den Zusammenbruch. Als das Volk danach in zwei getrennten Staaten neu anfing, hätte man annehmen können, dass es der Idee der Führung nun skeptisch gegenüberstünde, meint Franziska Rehlinghaus. "Was mich überrascht hat, ist, dass die Legitimität des Begriffs überhaupt nicht hinterfragt wird am Anfang. Man spricht nicht darüber, wie kann man diesen Begriff aus der deutschen Sprache verbannen, sondern eher darüber, wie füllt man ihn neu, damit er wieder verwendbar ist."
    Konrad Adenauer (CDU) bei seiner Vereidigung am 20. September 1949 zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
    Konrad Adenauer (CDU) bei seiner Vereidigung am 20. September 1949 zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. (dpa)
    Im Westen durften die alten Wirtschaftskapitäne den Wiederaufbau leiten. Und auf dem politischen Feld fand sich mit Konrad Adenauer schnell ein weiser Patriarch, der eindeutig die Richtung vorgab. Doch ausgerechnet das Militär versuchte einen klaren Neuanfang, ergänzt Thomas Schaarschmidt vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Mit dem Prinzip der "Inneren Führung" habe die Bundeswehr mit altem Kadavergehorsam aufräumen wollen.
    "Die Idee dahinter ist nicht ganz neu, dass die Geführten überzeugt sein sollten von dem, wohin sie geführt werden. Das ist das Prinzip der Inneren Führung, dass in der demokratischen Gesellschaft die Staatsbürger in Uniform überzeugt sind von dem Wert der Demokratie und der Marktwirtschaft und deshalb besonders motiviert sind. Das ist jetzt nicht so ganz neu, wenn man das zurückverfolgt, kommt man bis zu den französischen Revolutionskriegen oder dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wo es immer darum geht, dass die Bevölkerung von den Zielen und für den Kampf überzeugt werden soll."
    Das sowjetische Modell von Führung
    Immer dann, wenn Massen als politische Akteure ins Spiel kommen, also gerade in der Demokratie, stellt sich überall und jedes Mal die Frage nach Führung, meint Thomas Schaarschmidt. Doch Führung setzt immer auch eine Bereitschaft zur Gefolgschaft voraus, die schon wieder den Keim der Unfreiheit in sich trägt. Dieser Widerspruch haftet nicht nur in Deutschland allen Massen-Bewegungen an, die sich emanzipatorische Ziele setzen.
    "Führung hat es natürlich auch in der Arbeiterbewegung gegeben und Arbeiterführer sind nichts Neues. Nach 1945 gibt es das sowjetische Modell und letztendlich auch das Modell der KPD, die sich selbst versteht als Avantgarde der Arbeiterklasse und von daher auch eine Führungsrolle für sich beansprucht mit entsprechenden Persönlichkeiten, die die Partei repräsentieren."
    In der frühen DDR fiel diesen Funktionären die Aufgabe zu, eine aus dem Nationalsozialismus übernommene Beamtenschaft auf neue Ziele einzuschwören. Oder Bauern, die der Kollektivierung ablehnend gegenüberstanden, in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammenzufassen. Die Führungsmethoden, die sie dabei an den Tag legten, waren alles andere als neu, bemerkt der Potsdamer Historiker Rüdiger Bergien.
    "Es ist eine bisher wenig beachtete Tatsache, dass nicht wenige SED-Funktionäre der 50er-Jahre sehr jung waren, also im Nationalsozialismus sozialisiert waren, nicht notwendigerweise in der NSDAP gewesen wären, aber durch diesen Rahmen geprägt worden waren. Sie waren jung, sie hatten keine professionelle Erfahrung, sie hatten die Ideologie auf ihrer Seite und sie setzten die teilweise sehr autoritär um."
    Weniger Druck, mehr Anreiz
    Nachdem die DDR Mitte der 60er Jahre Wirtschaftsreformen eingeleitet hatte, stieg eine neue Generation von Funktionären in Spitzenpositionen auf, die sich zunehmend an westlichen Managementmethoden orientierte. Die beruhten nicht mehr in erster Linie auf Druck, sondern auf Anreizsystemen.
    "Wir haben eine Professionalisierung von SED-Funktionären, von Wirtschaftsfunktionären, die Wert darauf legten, dass sie mehr verdienten als die normalen Werktätigen, denen unheimlich wichtig war, dass sie Auszeichnungen bekamen, also diese ganzen kleinen Zugaben, darüber definierte man sich."
    Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED, mit Pionieren im August 1988 in Karl-Marx-Stadt.
    Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED, mit Pionieren im August 1988 in Karl-Marx-Stadt. (picture alliance / ZB / Peter Kroh)
    Heutzutage achten viele Manager darauf, nicht mehr so deutlich als Führungsfiguren sichtbar zu sein. Sie sprechen lieber von flachen Hierarchien und bestimmt nicht mehr von Untergebenen, sondern von Mitarbeitern, denen sie helfen wollen, sich selbst zu optimieren. Und viele Menschen nehmen solche Angebote gerne an, nicht nur im Arbeitsleben, erzählt Franziska Rehlinghaus.
    "Derjenige, der führt, ist dann plötzlich nicht mehr derjenige, der sagt, wo es lang gehen soll, sondern derjenige, der anderen zur Selbstführung verhilft. Da sprießt ein ganzer Markt an Leuten, die den Menschen sagen, so und so musst du dich selber führen, um ein glücklicher Mensch zu werden oder ein gutes Leben zu führen oder erfolgreich oder gesund zu sein. Führung wird mehr aufs Selbst bezogen, aber Führung verschwindet nicht."
    Geschlechterfrage gewinnt an Bedeutung
    Doch die Gewichte verschieben sich. Was früher eindeutig in den Verantwortungsbereich von Leitung oder Management fiel, die effiziente Organisation von Arbeits- und Verwaltungsabläufen, wird zunehmend aufs Individuum abgewälzt. Alle sollen stets das Optimum einbringen und auch ihre Nebenleute dazu animieren. Um das zu erreichen, thematisieren moderne Management-Theoretiker auch zunehmend die Geschlechterfrage, die sie lange ignoriert haben.
    "Was auffällig ist, ist, wenn es darum geht, Führung zu definieren, Männer diejenigen sind, die definieren, was Führung ist. Wenn Gremien entscheiden sollen, ein Konzern will sich Führungsgrundsätze geben, dann sind es Männer, die bestimmen, so und so sollen unsere Grundsätze aussehen."
    Eine Frau erklärt eine mittels Beamer an die Wand projizierte Statistik.
    Noch immer sind meistens Männer in den Toppositionen (picture-alliance / Tobias Kleinschmidt)
    Auch wenn sie nach wie vor weitgehend von Männern formuliert werden, enthalten solche Grundsätze zunehmend auch Kompetenzen, die gerne Frauen zugeschrieben, etwa ausgeprägte kommunikative und soziale Fähigkeiten. Mit deren Hilfe hoffen Unternehmensleitungen offenbar, noch ungenutzte Produktivitätsreserven heben zu können. Dann werden sie aber nicht umhin kommen, deutlich mehr Frauen den Weg in Toppositionen zu öffnen. Die Diskussion um Führung und Führungskonzepte ist auch im 21. Jahrhundert noch längst nicht abgeschlossen.