Aufbruch ins Unerklärliche

Rezensiert von Barbara Wahlster · 29.05.2006
Unvorstellbar alt und geheimnisvoll, verblüffend in ihrer Perfektion: Gamal Al-Ghitani erkundet das Kraftfeld der Pyramiden in seinen 14 ebenso dichten wie irritierenden Geschichten. Immer aber liegt das Abenteuer um die Ecke, in der eigenen Phantasie und erhält in den Pyramiden lediglich eine äußere Gestalt, als ob sie - wie das Orakel - die Frage nach dem Selbst stellten.
Heute gehören die Pyramiden von Gizeh zum UNESCO-Weltkulturerbe und locken jedes Jahr Millionen von Touristen und Wissenschaftlern zu der riesigen Nekropole südwestlich von Kairo. Doch bereits in der Antike galten sie als eines der sieben Weltwunder: unvorstellbar alt und geheimnisvoll, verblüffend in ihrer Perfektion, wie von Götterhand geschaffen. Denn wie sonst hätten die drei Millionen Steinblöcke der Cheops-Pyramide, des ältesten und größten der drei unmittelbar benachbarten Grabmale, rund 2500 vor Christus überhaupt aufeinander gefügt werden können?

Die Spekulationen und mystischen Antworten blühten schon in den ersten frühen Schriftrollen. Und mit der Zeit kamen immer mehr Legenden über seltsame, höchst unwahrscheinliche Begebenheiten wie leuchtende Särge, strafende Wächter, Menschen verschlingende Abgründe, plötzlich unauffindbare Durchgänge, Götterwaffen und geheime Botschaften hinzu.

Auch heute noch inspirieren die gigantischen Ruinen jedes Jahr Fantasy- und Sandalenfilme, Spiele, esoterische Schriften, seriöse Sachbücher, Romane, die mit der exotischen Ferne des Alten Ägyptens und der Magie des Geheimnisvollen spielen. Gamal Al-Ghitanis literarische Expeditionen starten an diesem Punkt und führen dennoch in andere Räume, da er sich nicht auf eine der Glaubensrichtungen oder ihre Widerlegung festlegt und mehrere Ebenen gelten lässt.

Er erkundet das Kraftfeld der Pyramiden, bedient sich all dieser unterschiedlichen Legenden und Stile in seinen 14 ebenso dichten wie irritierenden Geschichten. Jeweils in einem sehr eigenen Ton entfaltet sich ein Märchen oder eine gleichnishafte Erzählung, dann wieder ein Reisebericht, eine Art Reportage. Immer aber liegt das Abenteuer um die Ecke, in der eigenen Phantasie und erhält in den Pyramiden lediglich eine äußere Gestalt, als ob sie - wie das Orakel - die Frage nach dem Selbst stellten. Was die einzelnen Figuren, von denen erzählt wird, antreibt, ist Bestandteil ihres eigenen Lebens. Den Leser führt das in seltsam schwebende Gefilde, dorthin, wo die Antwort offen bleibt, das Wunderbare, Unerklärliche sich durchsetzt.

So erzählt der ägyptische Schriftsteller etwa von den Gelehrten aus aller Welt, die kamen, um die Pyramide zu vermessen. Ein vom Kalif angestellter Großmeister gerät bei der Aufgabe vor stets neue Schwierigkeiten, nimmt sich immer größere Aufstiege vor, um bestimmte Proportionen miteinander ins Verhältnis zu setzen - und verschwindet zu guter Letzt spurlos auf der Spitze der großen Pyramide.

Ein andermal umkreist Al Ghitani das Warten - auf Zeichen, auf die alles erklärende alte Handschrift - und das Verlangen nach Wissen im Angesicht der erhabenen ewigen Bauwerke. Sie relativieren Zeit und Raum, sind Anlass und Ziel, Prüfung und Versprechen. Wer in ihrem Bann steht, gerät in eine andere Ordnung, verfällt einer höheren Macht. Da verlieren selbst die europäischen Frauen und das neue Leben, das sie bieten könnten, ihre Attraktion.

Der Leser wird hineingezogen in den Sog, gerät mit einem Trupp Jugendlicher immer tiefer ins Innere des Bauwerks, er wartet mit einem Mystiker, der sein Leben auf eine einzige Stelle konzentriert verbringt, und doch den entscheidenden Moment, als der Schatten der Pyramidenspitze diesen Baumstumpf streifte, verpasst.

Die Expeditionen dieses kleinen Buches aus dem Münchner C.H. Beck Verlag wirken wir Meditationen und spannen einen Bogen zwischen Erwartung und Nichts (so die Titel der ersten und der letzten Geschichte) sowie zwischen alter Literatur und dem Heute. Der Fundus nämlich, aus dem Gamal Al-Ghitani schöpft, und den er umwandelt, sind alte Chroniken und Anekdotensammlungen. Indem er bekannte Muster reaktiviert und verändert, überträgt der 1945 geborene Autor vielleicht Fähigkeiten seines ersten Berufes als Teppich-Designer auf die Literatur und webt so ganz neue, eigenständige literarische Texturen.


Gamal Al-Ghitani: Pyramiden - Eine literarische Expedition
Aus dem Arabischen von Doris Kilias.
Verlag C.H. Beck, München 2006, 112 Seiten