Aufbauprozess in Afghanistan ist "schlecht gelaufen"

Hans-Joachim Daerr im Gespräch mit Ute Welty · 10.09.2011
Der frühere deutsche Sonderbeauftragte für Afghanistan, Hans-Joachim Daerr, kritisiert mehrere Fehler und Versäumnisse beim Neuaufbau des Landes. Der Irak-Krieg habe zudem alle Mittel der USA absorbiert.
Ute Welty: Die Leben vieler Menschen haben die Anschläge vom 11. September verändert, zum Teil drastisch verändert, und auch das von Hans-Joachim Daerr wäre anders verlaufen. Im August 2001 kehrt der Diplomat nach Deutschland zurück, nachdem er vier Jahre lang als Botschafter in Pakistan auch für Afghanistan zuständig war. Und die Erfahrungen aus dieser Zeit qualifizieren ihn wie niemanden sonst für den Job des Sonderbeauftragten, zu dem ihn der damalige Außenminister Fischer beruft. Guten Morgen, Herr Daerr!

Hans-Joachim Daerr: Einen schönen guten Morgen!

Welty: Zehn Jahre ist das jetzt her, und der morgige Jahrestag, der lässt die Erinnerungen noch mal sehr lebendig werden. Wann wurde Ihnen die Tragweite dessen bewusst, was da geschehen war?

Daerr: Also die Auswirkungen für die Region, aus der ich gerade kam, waren natürlich in dem Augenblick klar, wo das Ausmaß der Anschläge vom 11. September sich überschauen ließ.

Welty: Gibt es für Sie dieses eine Bild, was sich eingebrannt hat?

Daerr: Ja, natürlich. Wie für alle erst mal das Bild der einstürzenden beiden Türme, aber für mich war dahinter eben auch sofort dann die Schlussfolgerung, wie geht es weiter – über El Kaida in die Region, von der wir ja wussten, dass El Kaida dort sein Rückzugsgebiet hat. Und damit war auch klar, es wird jetzt vieles in Bewegung kommen.

Welty: Genau an den 11. September 2001 selbst kann sich ja fast jeder sehr genau erinnern. Was man, glaube ich, verdrängt hat, das ist die Hektik der Zeit danach, wo Sie ja dann als Sonderbeauftragter sozusagen im Auge des Sturms standen, hier in Berlin. Wie muss ich mir Ihre Tage und auch Ihre Nächte nach 9/11 vorstellen?

Daerr: Na ja, ich war ja zurückgekommen für einen anderen Job, nämlich den des Rüstungskontrollbeauftragten der Bundesregierung, aber dann gab es diese Kette der Krisensitzungen, in die ich dann mit hineingezogen wurde, weil ich eben derjenige war, der aus der Region gerade frisch kam und die Taliban kannte, Karsai kannte und die beiden Länder Pakistan, Afghanistan gut kannte. Und dann war ganz klar, dass, nachdem auch die militärischen Operationen angelaufen waren, wir dann anschließend einfach eine neue Lösung für Afghanistan finden müssen, und das musste in den Händen der Vereinten Nationen liegen, aber mit Zuarbeit. Und nach einer kurzen Suche der Vereinten Nationen und der betroffenen Afghanen war klar, Präferenz für den Verhandlungsort Deutschland.

Welty: Ja, Sie haben sehr schnell damit begonnen, nach Afghanistan zu reisen und die erste Petersberg-Konferenz vorzubereiten, die dann bereits Ende November begann. Hat sich die damit verbundene Mühe gelohnt? Wie beurteilen Sie das mit einem Jahrzehnt Abstand?

Daerr: Es gab ja gar keine Frage, dass da etwas geschehen musste, zunächst mal die politische Lösung oder Übergangslösung, unmittelbar danach dann im Januar in Tokio die Wiederaufbaukonferenz und Lösung. Und es war auch klar, dass mit heißer Nadel genäht werden musste, wie man so schön sagt. Insofern wussten wir auch da schon, dass es nicht perfekt sein würde. Es liefen ja noch die Kampfhandlungen, die Beteiligung, Vertretung der Afghanen bei der Petersberg-Konferenz war auch nicht perfekt im Sinne von voll repräsentativ. Es musste einfach schnell gehen und es musste was geschehen. Aber wir waren schon sehr stolz, dass Petersberg so gelaufen ist, wie es gelaufen ist, und die Tokio-Konferenz dazu, und eigentlich waren damit die Grundlagen gelegt für eine nachhaltig positive Entwicklung. Wenn man heute sagt, das war damals im Grunde schon absehbar, dass es nicht klappen würde, das ist wirklich eine Rückprojektion, die unzulässig ist.

Welty: Jetzt würden Sie sagen, …

Daerr: Es ist schlecht gelaufen.

Welty: … es ist schlecht gelaufen. Warum?

Daerr: Und ich kann Ihnen auch gleich die Hauptgründe nennen. Ein Hauptgrund war der Irakkrieg der USA, der die Aufmerksamkeit und die Mittel, alle Mittel der USA in massivster Weise absorbiert und abgelenkt hat von Afghanistan, der das Umfeld in der gesamten islamischen Welt für alles, was der Westen unternommen hat, sehr angespannt und verschlechtert hat. Die andere große nachteilige Entwicklung, die war ein bisschen vorherzusehen – das ist das Doppelspiel von Pakistan, speziell des pakistanischen Geheimdienstes. Wir haben überlegt, wie man das möglicherweise reduzieren kann, aber da hätte man eine Art, wie soll ich sagen, Sperrzone einrichten müssen, an die wir schon gedacht haben, die aber natürlich die Zustimmung weder der Afghanen noch der Pakistani fand.

Und die dritte Sache, die auch vieles hätte verändern, verbessern können im Endergebnis: Wir wollten eigentlich den Aufbau sofort, sofort im September, Oktober und dezentral anfangen, und auf der Petersberg-Konferenz haben die Afghanen fast wie ein Mann gesagt: Nein, rührt nicht an die Einheit Afghanistans. Und damit war Verzögerung eingebaut, der Gang über eine Zentralregierung, die ja erst aufgebaut wurde und Übergangsregierung war, mit all den damit sich eröffnenden Korruptionsmöglichkeiten, Verzögerungsmöglichkeiten, Schwierigkeiten bei der gerechten oder gleichmäßigen Verteilung im Lande.

Also das sind, glaube ich, die drei großen negativen Entwicklungen, und ich muss sagen, im Sinne der Verantwortung, da sind wir eigentlich nicht unbedingt schuldig. Das waren drei Entwicklungen, die nicht unserer Steuerung unterlagen. Das muss man, glaube ich, klarmachen: Es war keine deutsche Konferenz, es war eine VN-Konferenz für und mit den Afghanen, bei der wir Gastgeber und natürlich Hilfesteller waren.

Welty: Würden Sie in dieser Reihe von Gründen auch mit einbeziehen, dass ja auf dem Petersberg die offiziellen Vertreter der Taliban nicht mit am Tisch saßen? Würden Sie im Nachhinein sagen, das war ein Fehler?

Daerr: Nein, das war zu dem Zeitpunkt völlig undenkbar. Einmal von der Rolle der Taliban, die sie gehabt hatten, von der Tatsache, dass sie immer noch eine kämpfende Partei, aber im Verschwinden waren und ein total dialogunfähiger Partner in diesem Zeitpunkt.

Welty: Wenn Sie jetzt vom Blick zurück aus den Blick nach vorn werfen, wo stehen wir in zehn Jahren?

Daerr: Na ja, diese drei Faktoren, die ich genannt habe, diese drei negativen Entwicklungen, haben alle beigetragen zu einer Entwicklung von unzufriedenen Gruppierungen, Grüppchen. Dieses Etikett Taliban ist dann ja schnell benutzt worden – jeder, der gegen den Westen, also westliche Politik und gegen Karsai war, kriegte dieses Etikett aufgeklebt, ein völlig heterogener Haufen. Insofern geht es auch heute im Grunde nicht darum, mit den Taliban und die Taliban einzubinden, sondern es geht darum, die Widerstandskräfte aller Art zu sortieren nach Dialogfähigen und Verhandlungsfähigen und anderen, wie den Drogenhändlern oder Kriminellen aller Art, mit denen man da nicht verhandeln kann oder will.

Welty: Der frühere Sonderbeauftragte für Afghanistan, herzlichen Dank, Herr Daerr!

Daerr: Ich bedanke mich.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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