Aufarbeitung der DDR-Diktatur

"Opfer nicht vor den Kopf stoßen"

Roland Jahn im Gespräch mit Margarete Wohlan und Martin Steinhage · 05.07.2014
Die Stasi-Unterlagenbehörde sollte nicht abgeschafft, sondern weiterentwickelt werden, sagt ihr Chef Roland Jahn. Die Behörde sei ein Symbol für die friedliche Revolution - und auch künftig gebe es dort noch genug zu tun.
Deutschlandradio Kultur: Unser Gast heute heißt Roland Jahn. Er ist – salopp gesagt – der Herr der Stasiakten und trägt ganz offiziell den Titel: Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. – Hallo, Herr Jahn.
Roland Jahn: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Bevor wir in den nächsten knapp 30 Minuten mit Roland Jahn über seine Arbeit reden, wollen Wir ihn zunächst in einem Kurzporträt vorstellen.
Das Unrechtsregime der DDR sowie die Methoden der Staatssicherheit kennt Roland Jahn aus eigener Erfahrung: Bereits als junger Mann musste der Thüringer die Universität in Jena verlassen, nachdem er sich kritisch mit den Verhältnissen in seiner Heimat auseinandergesetzt hatte. Obwohl Jahn in den folgenden Jahren mehrfach festgenommen und verhört wurde, ließ sich er nicht einschüchtern und provozierte weiterhin mit zahlreichen Aktionen die Staatsmacht. Wegen dieser Aktivitäten wurde der gebürtige Jenaer schließlich zu einer längeren Haftstrafe verurteilt, kam aber nach internationalen Protesten und Berichten in bundesdeutschen Medien bald wieder frei. Wenig später wurde Jahn im Sommer 1983 gegen seinen Willen ausgebürgert. Fortan lebte er in West-Berlin und arbeitete dort als Journalist. In zahllosen Berichten und Reportagen beschäftigte er sich mit den Verhältnissen in der DDR. Auch mit seiner jetzigen Aufgabe ist der inzwischen 60 Jährige seinem Lebensthema treu geblieben: Seit nunmehr dreieinhalb Jahren leitet Jahn die Stasiunterlagenbehörde.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, Ende 2019 läuft das Gesetz zur Stasi-Überprüfung von Mitarbeitern des Öffentlichen Dienstes aus. Nun mehren sich die Stimmen, die fordern: Dann sollte auch Ihre Behörde geschlossen werden. Eine mit Experten besetzte Bundestagskommission befasst sich jetzt mit der Frage nach der Zukunft Ihrer Behörde über 2019 hinaus.
Braucht man die Stasi-Unterlagen-Behörde noch?
Roland Jahn: Also, ich denke, wir brauchen diese Stasi-Akten, um aufzuklären, wie Diktatur funktioniert hat. Und ich glaube auch, dass keiner ernsthaft meint, dass hier die Akten geschlossen werden, sondern es geht ja nicht um Schließung, es geht nicht um Abwicklung, sondern es geht um Weiterentwicklung. Es geht darum: Wie können wir zukünftig ja den Zugang zu den Akten sichern? Wie können wir sie gut verwahren in Archiven? Und wie können wir sie nutzen, damit wir in Forschung, in Bildung aufklären auch für die nächsten Generationen?
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einen Moment bei dem, was Ihre Behörde geleistet hat, was sie leisten kann, vielleicht auch in Zukunft leisten wird. Die Anträge auf Akteneinsicht bei Ihrer Behörde sind rückläufig. Daraus ergibt sich ja zwangsläufig die Frage: Verlieren die Menschen also allmählich das Interesse an der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit?
Roland Jahn: Ja, wir sind ja kein Bäcker, der jeden Tag neues Brot verkauft, sondern wir sind eine Dienstleistungseinrichtung für die Bürger, in deren Leben die Staatssicherheit eingegriffen hat. Und die Menschen haben seit 1992 Anträge gestellt. Es sind jetzt inzwischen über drei Millionen Anträge erfolgt auf Akteneinsicht, auf Akteneinsicht, die persönlich gestellt worden ist.
Und dazu kommen dann auch immer noch die Akteneinsichten von Forschung und Medien. Aber diese persönlichen Akteneinsichten sind natürlich rückläufig, viele haben schon in ihre Akten geschaut. Manche wollen wieder reinschauen. Wir haben ungefähr ein Drittel Wiederholungsanträge. Und letztes Jahr hatten wir 64.000 Anträge auf Akteneinsicht. Dieses Jahr kann man sagen, jeden Monat über 5000 noch. Also, es ist noch genug zu tun.
Deutschlandradio Kultur: Das novellierte Stasi-Unterlagen-Gesetz erlaubt seit 2012, dass Menschen die Akten ihrer verstorbenen Angehörigen einsehen können. Wie sehr wird das genutzt? Und was sind die Motive dieser Besucher?
"Aufarbeitung ist auch für die nächsten Generationen wichtig"
Roland Jahn: Zehn Prozent der Erstanträge auf Akteneinsicht sind von solchen Bürgern, die in die Akten ihrer Verwandten hineinschauen wollen, Verwandte, die verstorben sind. Das ist ja oft so, dass Menschen ja zugehört haben, was Oma und Opa erzählt haben über diese Zeit. Und jetzt, wenn sie erwachsen sind, wollen sie hineinschauen, wollen genauer wissen, was denn damals passiert ist.
Und das ist, denke ich, auch eine Erkenntnis, dass ja Aufarbeitung über Generationen hinausgeht, dass Aufarbeitung etwas ist, was auch wichtig ist in den nächsten Generationen und nicht nur für die, die in dieser Zeit gelebt haben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, haben Sie eigentlich einen Überblick über die Fülle des Materials? Oder werden gelegentlich noch Dokumente gefunden, von deren Existenz man zuvor gar keine Ahnung hatte?
Roland Jahn: Natürlich ist das immer in einem Archiv so, dass es immer wieder neue Dinge gibt, die gefunden werden, weil es immer wieder neue Rechercheansätze gibt. Das ist ja das Wichtige, dass dieses Archiv zur Verfügung steht und Journalisten und Wissenschaftler hier mit ihren Aufträgen dieses Archiv nutzen, um ihre Arbeiten zu erstellen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn noch immer neues Material gefunden wird bei Ihnen, heißt das für diejenigen, die früher schon einmal ihre Akten eingesehen haben, ein neuer Besuch könnte sich lohnen?
Roland Jahn: Das hat sich gezeigt, dass Wiederholungsanträge immer doch sehr oft erfolgreich waren. Das hat damit zu tun, dass wir auch immer noch bei der Erschließung des Aktenmaterials sind. Wir haben 111 Kilometer Akten. Die Hälfte davon war nicht erschlossen, sondern das lag in Bündeln hier in den Räumen der Stasi. Man muss sich vorstellen, mit der friedlichen Revolution gab es einen Stopp der Arbeit der Staatssicherheit. Die Akten lagen in den Schreibtischen, in den Schränken, in den Büros. Und diese mussten erstmal erschlossen werden.
Die andere Hälfte der Akten war im Archiv der Staatssicherheit. Die sind personenbezogen erschlossen gewesen. Das heißt, personenbezogen zugänglich. Und eine sachthematische Erschließung muss auch noch weiter fortgesetzt werden. Es ist auch in der Erschließung noch viel Arbeit.
Deutschlandradio Kultur: Und wäre die Wegstrecke bis 2019 zu schaffen?
Roland Jahn: Ich denke, man muss hier sehr sorgsam rangehen. Wichtig ist, dass das urkundlich gemacht. Das ist die Aufgabe der Archivare, dass die Nutzer dann auch mit dem, was sie da erforschen wollen, auch die Akten gut finden. Die Schlagwortverzeichnung, die Findmittel, das sind alles Instrumentarien, die die Forscher dann brauchen. Das ist eine Arbeit, die Zeit braucht. Man kann jetzt nicht genau abstecken, bis wann man das schafft.
Deutschlandradio Kultur: Ein Beispiel, was jetzt in den letzten Tagen öffentlich geworden ist, sind die westlichen Pharmahersteller, die in den 80er-Jahren in der DDR, natürlich mit Wissen des SED-Regimes, Medikamentenstudien an DDR-Bürgern vorgenommen haben. Vermutlich wurden Tausende, ohne es zu wissen, als Versuchskaninchen missbraucht.
Eine Forschungsgruppe ist nämlich dabei, die ganze Geschichte aufzuarbeiten. Vieles liegt im Dunkeln. Was kann Ihre Behörde bei der Aufklärung tun? Und wie kann sie da helfen? Kann sie das überhaupt?
Roland Jahn: Das ist ein Beispiel, dass es immer wieder neue Aktenfunde gibt, die auf interessante Themen hinweisen. Wir sind ein Stasi-Unterlagen-Archiv. Wir haben die Akten einer Geheimpolizei. Und die Geheimpolizei in der DDR, die Staatssicherheit, hat natürlich versucht, über alles, was in diesem Land geschieht, Bescheid zu wissen, überall die Hände mit drin zu haben und auch bestimmte Dinge anzubahnen. Und in dem Sinne sind dort viele, viele Themen zu finden, die auch andere Bereiche und nicht das direkte Wirken der Staatssicherheit betreffen.
Also, wenn wir gerade auch die Versuche von Pharmatests sehen, die in der DDR stattgefunden haben, auch im Auftrag von westlichen Pharmafirmen, da sehen wir, dass es Akten der Staatssicherheit gibt, die Aussagen beinhalten über die Anbahnung dieser Geschäfte, über die Absicherung der Geschäfte. Und das gilt es jetzt alles zusammenzutragen.
Es gibt mehrere Forschungsprojekte, unter anderem ein großes von der Charité, was in diesen Tagen auch eine Zwischenbilanz vorgestellt hat. Es gibt andere Forschungsprojekte von Universitäten, auch von den Ländern, von den Bundesländern. Und ja, wir stellen die Akten zur Verfügung. Wir sind ein Unterlagenarchiv, was hilft, dass Forschung möglich ist.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht da nochmal eine Nachfrage: Konnten Sie denn auch schon bereits konkret in diesem Sinne helfen – Stichwort Knastware für den Klassenfeind, also bei der Häftlingsarbeit, die es gerade beispielsweise für IKEA, möglicherweise für Aldi-Süd, vielleicht auch für VW?
Im Übrigen gab es ja auch Blutspenden, wo Menschen im Gefängnis Blut spenden mussten, das dann an den Westen verkauft wurde. Was können Sie da tun? Was konnten Sie da schon tun?
Was tat die Stasi in Westdeutschland?
Roland Jahn: Wir haben auch eine eigene Forschungsabteilung, die dazu natürlich mit beiträgt, dass wir die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur verstehen können, dass diese Herrschaftsmechanismen offen gelegt werden. Und so haben wir auch einzelne Studien, die wir in dieser Forschungsabteilung machen. Eine der letzten war halt die Studie "Knastware für den Klassenfeind". Dort haben wir zusammengetragen, Tobias Wunschik, einer der Wissenschaftler, die dort sehr akribisch diese Dokumente zusammengestellt haben, aber auch, gerade auch die Verflochtenheit des Systems deutlich gemacht haben, dass es halt nicht nur Staatssicherheit war, die hier Menschenrechte verletzt hat, sondern dass an vielen Stellen in der DDR in der Verantwortung von Funktionären so was gemacht worden ist wie Häftlingsarbeit in Gefängnissen, die dann menschenrechtsverletztend stattgefunden hat.
Deutschlandradio Kultur: Stichwort Westen, Westdeutschland: Man weiß heute, dass es auch im Westen mehrere tausend Stasimitarbeiter gegeben hat. Ist das eigentlich hinreichend aufgearbeitet?
Roland Jahn: Bei der Aufarbeitung der Arbeit der Stasi im Westen gibt es Lücken. Das hat damit zu tun, dass die Aktenlage nicht so gut ist. Die Staatssicherheit durfte, also die Hauptverwaltung Aufklärung, die im Westen gearbeitet hat, in Richtung Westen auch gearbeitet hat, die durfte ihre Akten selber sozusagen auflösen. Und dadurch ist viel vernichtet worden. Dadurch sind halt die Lücken in den Archivbeständen. Und wir müssen jetzt sehen, dass wir versuchen diese Lücken zu schließen.
Auf alle Fälle, eins wird immer wieder deutlich. Die Aufarbeitung der Tätigkeit der Staatssicherheit ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Und man kann nicht so tun, als ob der Westen damit nichts zu tun hätte.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das beispielsweise auch konkret, dass man eigentlich auch im Westen Stasilandesbeauftragte bräuchte, so wie man sie im Osten hat?
Roland Jahn: Nein, ich denke, gerade die Aufgabe der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ist etwas, was sehr mit der Region zu tun hat. Und das unterscheidet sich doch dann schon von den Regionen im Westen.
Natürlich ist es gut, dass es einen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gibt, der auch Ansprechpartner ist für diejenigen, die im Westen davon betroffen sind. Die Menschen, die im Westen Akteneinsicht beantragen, können sich natürlich jederzeit an uns wenden.
Und wir sind ja auch unterwegs im Westen, in den westlichen Bundesländern. Wir sind unterwegs mit unserer Dauerausstellung "Feind ist, wer anders denkt". Dor haben wir auch großen Zuspruch, großes Interesse. Und die Menschen wollen wissen: Wie hat die Staatssicherheit gearbeitet? Und wie ist es geschafft worden, dass diese Diktatur überwunden wurde?
Deutschlandradio Kultur: Dieses große Interesse, können Sie das ein bisschen näher beschreiben? Wie ist das Interesse im Westen – also, bei Jugendlichen, bei Erwachsenen, bei alten Leuten?
Roland Jahn: Das ist doch sehr breit gefächert. Diese Wanderausstellung, die ist ja in öffentlichen Räumen, in Rathäusern oder in Volkshochschulen. Dort gibt es natürlich sehr viel erwachsenes Publikum. Aber wir legen auch darauf Wert, dass die Schulen vor Ort gut informiert sind, dass diese Ausstellung da ist. Und dann ist es oft ein Selbstläufer, dass die Schulen Interesse zeigen, diese Ausstellung zu besuchen, dass sie noch darüber hinaus Informationsveranstaltungen haben wollen, Zeitzeugengespräche oder auch Vorträge unserer Wissenschaftler.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, gehen wir nochmal zurück zur Eingangsfrage, als es um die Zukunft der Stasi-Unterlagen-Behörde ging. Gegen die weitere Aufarbeitung und Auswertung des Stasi-Materials hat ja nun niemand wirklich ernsthaft etwas. Allerdings ist umstritten, ob das auch künftig Ihre Behörde tun muss oder ob man nicht zum Beispiel das Bundesarchiv dafür nehmen könnte, dass das Bundesarchiv die ganzen Akten übernimmt und weiter bearbeitet und auswertet. – Was spräche dagegen?
Roland Jahn: Wir sind ja jetzt schon ein Archiv des Bundes. Unsere Mitarbeiter haben alle Arbeitsverträge mit der Bundesrepublik Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Die Musik spielt nicht in Koblenz beim Bundesarchiv, sondern in Lichtenberg.
Roland Jahn: Das Entscheidende ist doch, dass die Akten weiter zugänglich sind. Und darum geht es jetzt auch in der Zukunftsdiskussion. Wir wollen langfristige Strukturen, die es möglich machen, dass die Akten gut gelagert sind, dass die Akten gut zugänglich sind. Und wir wollen so wenig wie möglich Geld in die Verwaltung stecken, so viel wie möglich in die Nutzung der Akten. Und das gilt es jetzt zu prüfen. Deswegen gibt es beim Bundestag eine Expertenkommission, die Vorschläge erarbeiten soll. Wie ist bestmöglich Aufarbeitung in der Zukunft organisierbar?
Deutschlandradio Kultur: Aber, Herr Jahn, man hat trotzdem den Eindruck, diejenigen, die befürworten, dass die Behörde Ihre Behörde bleiben soll, dass die einem das Gefühl vermitteln, es ist etwas ganz Besonderes mit dieser Behörde und deswegen soll das da auch bleiben.
Also, welche Symbolkraft hat diese Behörde? Und welche Symbolkraft hätte die Schließung einer solchen Behörde?
"Die Forschung muss weitergehen"
Roland Jahn: Es geht nicht um Schließung, das muss ich nochmal klar und deutlich sagen, sondern es geht um Weiterentwicklung. Es geht darum: Wie können diese Akten bestmöglich genutzt werden?
Und natürlich muss man da diese Symbolkraft beachten. Diese Stasi-Unterlagen-Behörde, die Nutzung der Akten, ist ein Symbol der friedlichen Revolution. Es war weltweit erstmalig, dass die Akten einer Geheimpolizei, dass die genutzt werden für die Bürger hineinzuschauen, dass sie genutzt werden für Forschung und Medien hineinzuschauen. Und dieses Symbol ist etwas, was man natürlich beachten muss. Eine Errungenschaft der friedlichen Revolution ist diese Nutzung der Akten. Das darf nicht beschädigt werden. Man darf auch die Opfer nicht vor den Kopf schlagen. Die Opfer haben hier gerade mit der persönlichen Akteneinsicht ein Stück ihres beschädigten Lebens wieder gutmachen können.
Das ist etwas, was ganz, ganz viele Hilfe bedeutet hat. Das muss alles weitergehen. Und Forschung und Bildung muss weitergehen. Das ist doch ganz, ganz wichtig, dass wir auch in den nächsten Generationen mit diesen Akten arbeiten können, dass wir sie nutzen können. – Und das gilt es abzusichern.
Die Frage, in welchen Strukturen, mit welchem Türschild das gemacht wird, das ist eine zweitrangige Frage. Aber eins ist doch klar. Wenn man was verändert, dann soll es besser werden, dann soll es besser werden für die Aufarbeitung insgesamt. Und wenn wir genauer hinschauen, wo gibt es durchaus Möglichkeiten, dass man was verbessern kann, dann ist es zum Beispiel die Frage: Ist eine Fixierung auf die Stasi ja vielleicht doch nicht ganz so günstig für die Aufarbeitung? Müssen wir nicht dorthin kommen, dass wir die SED-Diktatur insgesamt viel mehr betrachten?
Und ich glaube, gerade unter diesem Gesichtspunkt ist in der Expertenkommission jetzt wichtig, dass diese Diskussionen geführt werden. – Wie kann sozusagen dafür Sorge getragen werden, dass wir die Aufarbeitung nicht zu sehr fixieren auf Staatssicherheit, sondern auf SED-Diktatur insgesamt?
Deutschlandradio Kultur: Diesen Aspekt wollen wir im weiteren Verlauf des Gespräches ohnehin noch ansprechen. Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Zukunft der Behörde jetzt in Lichtenberg bleiben. Sie haben vor einem halben Jahr, so haben wir es im Zeitungsarchiv gefunden, den – wie wir finden – sehr schönen Satz gesagt: "Wenn man die Akten vom Ort des Wirkens der Stasi entfernt, verlieren sie an Kraft." Das fanden wir ein sehr überzeugendes Argument.
Wir haben jetzt den Eindruck, wir wollen das nicht überpsychologisieren, wir haben jetzt den Eindruck, dass Sie deutlich defensiver sind. – Warum eigentlich?
Roland Jahn: Ich bin nicht defensiver, dieser Satz ist immer noch gültig. Ich baue ja auf auf das, was hier in über 20 Jahren Erfahrung an Erkenntnissen gewonnen wurde. Wir haben ja diese Symbolkraft nicht nur in der Ausstrahlung durch die Nutzung der Akten. Wir haben diese Symbolkraft auch, wenn wir Besucher bekommen, die die Archive besuchen. Wir haben ganz viele Schulklassen, die zu uns kommen, die Archivrundgänge machen, die die Karteien sich anschauen, die dort lernen. – Wie hat die Stasi Informationen gesammelt und wie hat sie sie genutzt? Die begreifen, dass hinter jeder Akte, die sie dort im Magazin sehen, ein menschliches Schicksal steht.
Und diese Wahrnehmung ist nicht nur national, sondern diese Wahrnehmung ist auch international. Wir haben Gäste aus allen Ländern der Welt. Wir haben gerade aus dem arabischen Raum in den letzten Jahren sehr viel Gäste gehabt, die sich anschauen: Wie habt ihr das gemacht in Deutschland? Wie arbeitet ihr Diktatur auf? Wie nutzt ihr diese Akten einer Geheimpolizei? Und das ist natürlich bei einem Gang durchs Archiv am authentischen Ort nochmal viel wirkungsvoller als wenn die Akten irgendwo in Keller in Koblenz gesteckt werden.
Deutschlandradio Kultur: Gut, aber dieses Defensive hat sich uns beiden auch mitgeteilt, Sie wollen sieben Büros schließen in den neuen Bundesländern. Sie zeigen sich offen für die Diskussion über die Zukunft der Behörde. – Das ist schon ein bisschen anders als wenn Sie da kämpferisch auftreten würden und sagen: Nein, die Behörde muss bleiben!
"Zukunftsfähige Strukturen bauen"
Roland Jahn: Ja, ich bin doch jemand, der die Werte der Arbeit der Behörde in die Zukunft tragen will. Ich bin doch jemand, der sagt, Bereitschaft zur Veränderung, damit es verbessert werden kann, damit das, was an Kompetenz und Wissen erarbeitet worden ist, auch in die Zukunft überführt wird. Eins ist doch wichtig, dass die Kompetenz und das Wissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Zukunft genutzt wird. Und da müssen wir zukunftsfähige Strukturen bauen.
Es nutzt doch nichts, wenn wir sagen, Behörde auf Ewigkeit, sondern es nutzt doch nur was, wenn wir Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch effektiv gearbeitet wird. Gerade wenn Akteneinsichtsanträge, die Zahl der Bürger zurückgeht, die Akteneinsicht beantragen, wenn wir in den Lesesälen weniger Leute sitzen haben, dann müssen wir schauen, wie können effektive Strukturen funktionieren. Wir brauchen Archive, die modernst ausgestattet sind, die Klimatechnik haben, die sicherstellen, dass diese Akten für die Zukunft bewahrt werden. Wir reden doch hier nicht über die nächsten fünf bis zehn Jahre, sondern über die nächsten 50 bis 100 Jahre. Das ist es doch, worum es geht, Strukturen zu entwickeln, die sicherstellen, dass diese Akten weiter genutzt werden.
Und man kann es doch positiv ausdrücken. Es geht doch nicht um Schließung von Außenstellen, sondern es geht um die Zusammenlegung von Archivstandorten, damit sie besser genutzt werden können, besser gelagert werden können diese Akten und damit Aufarbeitung auch besser erfolgen kann.
Und da müssen wir auch Rechnung tragen, wir haben eine hervorragende Entwicklung gerade in den Bundesländern. Wir haben dort eine neue Gedenkstättenlandschaft. Zum Beispiel in Thüringen ist letztes Jahr die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße eröffnet worden, die ehemalige U-Haft der Staatssicherheit. Dort gibt es ganz neue Ausstellungen, ganz neue Voraussetzungen, dass dort eine Öffentlichkeitsarbeit gemacht wird, auch über Staatssicherheit, aber auch über den gesamten Komplex SED-Diktatur. Das sind doch die Chancen, wo mehr und mehr auch deutlich werden kann, ja, dass wir als Stasi-Unterlagen-Archiv dort arbeitsteilig mit diesen neuen Gedenkstätten auch zusammenarbeiten. Und so muss man das immer insgesamt betrachten.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, Sie haben vor einiger Zeit vorgeschlagen, in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg einen so genannten Campus der Demokratie aufzubauen.
Gehe ich recht in der Annahme, vieles von dem, was Sie eben gesagt haben, soll gedanklich einfließen in den Campus? Können Sie das vielleicht nochmal in kurzen Worten erklären, was genau mit dem Campus der Demokratie gemeint ist?
Roland Jahn: Also, der Gedanke ist doch, dass diese ehemalige Stasizentrale in Berlin Lichtenberg ja ein historischer Ort ist, an dem sehr gut aufgeklärt werden kann über Repression und auch über Widerstand. Und dieser Ort hat ja eine dreifache Bedeutung. Dieser Ort ist einerseits natürlich ein Ort, an dem Repression organisiert worden ist. Dort war der Dienstsitz des Stasi-Ministers Mielke. Und dort haben ja über 7.000 Menschen gearbeitet zuletzt – als hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter. Eine kleine Stadt in der Stadt ist dort an diesem Ort.
Aber dieser Ort ist auch ein Ort, der ein Symbol für die friedliche Revolution ist. Am 15. Januar 1990 wurde dort im Zuge der friedlichen Revolution ja diese Zentrale der Staatssicherheit besetzt und dann ja die Akten gesichert und später zugänglich gemacht. Also, dieser Ort der friedlichen Revolution, den gilt es auch darzustellen. Und dieser Ort ist auch ein Ort, an dem über 20 Jahre jetzt schon Aufarbeitung organisiert wird durch die Bereitstellung der Akten.
Ja, das ist auch ein Symbol für diesen Ort. Und wir merken es ja an den Besuchern aus dem In- und Ausland, dass genau das auch an diesem Ort wahrgenommen wird.
Und deswegen habe ich gesagt, dieser Ort, die Stasi-Zentrale, die ehemalige, bietet eine Chance, einen Ort der Auseinandersetzung, einen Ort der Aufklärung darzustellen und auch einen Ort, der in die Zukunft gewandt ist, einen Ort, einen Lernort für Demokratie, wenn man so will, auch einen Campus, ein verbindender Raum, an dem Demokratie gedacht werden kann, nämlich aus den Erfahrungen der Vergangenheit, der Diktatur lernen für die Zukunft, für die Gestaltung der Demokratie.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, es klang schon an. Trotzdem würde ich an der Stelle gerne nochmal nachfragen: Wird die Stasi möglicherweise in ihrer Wirkung eher dämonisiert und überschätzt und das SED-Regime und vielleicht auch die DDR-Justiz kommen vergleichsweise gut weg in der öffentlichen Wahrnehmung?
Roland Jahn: Ich denke, das Hauptproblem liegt natürlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, in der Fixierung auf das Thema Stasi. Das ist natürlich etwas, was ja auch verständlich ist. Natürlich ist es immer das Geheime, das Verborgene, was die Menschen im Nachhinein wissen wollen. Und deswegen haben natürlich viele gerade mit dem Ende der DDR dort hingeschaut. Die Medien haben in dieser Art und Weise gearbeitet, dass sie immer etwas aufdecken wollten, was keiner wusste, dass es immer auch um die schnelle Meldung ging, um die Überschrift der Enttarnung eines Politikers oder sonst etwas. Und dadurch ist natürlich...
Deutschlandradio Kultur: Entschuldigung, aber die Stasi war natürlich auch das sichtbare Symbol eines Unterdrückungsapparates in der DDR.
Roland Jahn: Aber die Stasi war halt nicht sichtbar. Sie wurde sichtbar gemacht. Und dieses Prinzip, etwas sichtbar machen, das weckt natürlich auch das Interesse der Menschen. – Ist ja auch verständlich.
Und dann wissen wir schon seit Hoffmann von Fallersleben: Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant. Da war natürlich auch ein Voyeurismus dabei. Da war etwas dabei, wo dann natürlich auch die Fragen war: Wer hat in meiner Umgebung mich bespitzelt? Wer hat mich verraten? Das sind ja Fragestellungen, die Menschen bewegt.
Aber ich denke, gerade deswegen ist es wichtig, dass wir einen Schritt weiter sind, dass wir heutzutage auch ja sagen, uns geht ums Ganze, uns geht es um die Herrschaftsmechanismen, die gewirkt haben. Wir wollen insgesamt wissen, wie hat das System funktioniert. Und wir wollen auch differenzieren. Wir wollen auch ja Fragen beantwortet haben, ja. Wie unterschiedliche haben sich Menschen verhalten in dieser Diktatur? Ein IM, ein inoffizieller Mitarbeiter, ist nicht gleich dem anderen, sondern es gab unterschiedliche Rahmenbedingungen. Warum hat sich jemand verpflichtet? Warum hat er das gemacht? Was hat er gemacht? – So, das gilt es genau zu ergründen, genau hinzuschauen.
Und mir ist es wichtig, dass gerade auch eine Stasi-Unterlagen-Behörde nicht das Amt für absolute Wahrheit ist, dass dort gesagt wird, wer was auf dem Kerbholz hat und wer nicht. Sondern mir ist es wichtig, dass wir Akten zur Verfügung stellen und dass wir ja auf Grundlage dieser Akten und auch auf Grundlage von Zeitzeugenberichten dann eine gesellschaftliche Debatte haben darüber, wer hat Verantwortung getragen und wie hat das System funktioniert.
Sind Vergleiche zwischen Stasi und NSA berechtigt?
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, dazu fällt mir jetzt die momentan emotional sehr aufgeladene Debatte um NSA und die US-amerikanischen National Security Agency ein. Dort wird immer mal die NSA mit der Stasi in einen Zusammenhang gebracht. Ist das legitim?
Roland Jahn: Ich denke, es ist nicht legitim, die NSA und die Staatssicherheit gleichzusetzen. Das ist, denke ich, eine Verhöhnung der Opfer der Staatssicherheit. Und das verstellt auch den Blick auf die notwendige Kritik der Geheimdienste, die heutzutage arbeiten.
Es ist wichtig. Natürlich kann man vergleichen. Natürlich kann man seine Sinne schärfen, indem man den Blick in die Vergangenheit nimmt, um damit auch zu bewerten, was heute in der Gegenwart stattfindet. Der Blick in die Diktatur schärft unsere Sinne, um zu erkennen, wo Freiheit auch heute in Gefahr ist. Das, denke ich, ist ganz, ganz wichtig. Aber Gleichsetzung sollte man nicht machen.
Es gibt natürlich immer Dinge, die gleich sind – einzelne Methoden, einzelne Verhaltensweisen. Aber das System ist ein prinzipiell unterschiedliches. Das System in der DDR hieß, dass eine Geheimpolizei dazu da ist, die Macht einer Partei zu stützen, abzusichern diese Macht einer Partei, die Diktatur einer Partei abzusichern. Das ist das Prinzip, das System der Geheimpolizei. Das System des Geheimdienstes in einer Demokratie, zumindest vom Anspruch her, ist es ja, Freiheit zu schützen, Menschenrechte zu schützen und sie nicht zu verletzen.
Dass das auch schiefgehen kann, weil Geheimdienste an sich natürlich das Bestreben haben, im Geheimen zu arbeiten und nicht kontrolliert zu werden, das ist natürlich ein Problem. Aber daran gilt es zu arbeiten. Aber wir haben halt in der Demokratie die Chance, uns darüber zu streiten, wie das bestmöglich organisiert wird. Wir können offen die Geheimdienste kritisieren. Wir können uns damit auseinandersetzen. Und das Parlament kann sie sogar abschaffen, diese Geheimdienste. Das heißt, wir haben alle Möglichkeiten.
Das gab's in der DDR nicht, nicht ohne Konsequenzen, dass man dann am Ende ins Gefängnis gekommen ist. Ich habe selber gespürt am eigenen Leib, dass ich für meine kritische Position zur Staatssicherheit ins Gefängnis gekommen bin. Und diesen Unterschied weiß ich wohl zu würdigen, dass ich jetzt offen diskutieren kann darüber, was ich nicht gut finde an den Geheimdiensten in der Demokratie.
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, zum guten Schluss haben wir noch eine allerletzte Frage.
Am Anfang der Sendung klang es in der Kurzbiographie schon an. Sie waren zu DDR-Zeiten, sie haben eben noch dran erinnert, Stasi-Opfer. Sie haben sich dann im Westen journalistisch mit der Staatssicherheit beschäftigt. Und nun sind Sie seit über drei Jahren Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde. Wir kennen natürlich auch den Film über die Stasi mit dem Titel "Das Leben der anderen".
Da hat sich uns in der Vorbereitung die Frage aufgedrängt: Gibt es bei Ihnen eigentlich auch ein anderes Leben, also ein Leben neben der Stasi?
Roland Jahn: Selbstverständlich gibt es das. Ich bin schon immer ein lebenslustiger Mensch. Und ich setze mich ja politisch auseinander, weil ich mir ein schönes Leben machen will. Ich meine, so bin ich politisiert worden. Wir wollten in Jena eigentlich nur Party machen. Und das wollte der Staat nicht zulassen. Und deswegen haben wir uns auseinandergesetzt. Und so geht das ja immer weiter im Leben.
Es geht darum, Freiheit zu schützen, Freiheit zu schützen für uns alle, aber für jeden Einzelnen auch.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Jahn.
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