Auf verlorenem Posten

Von Reinhard Baumgarten · 13.09.2011
Die Jugend in Iran meidet die Politik und findet ihre Freiräume auf Facebook – noch. Die Regierung hat angekündigt, die Verbindung ins Internet zu kappen und ein kontrolliertes "iranisches Intranet" zu schaffen. Viele junge Iraner gehen ins Ausland.
Ende eines Familienausflugs morgens um acht. Straßensperre im Elbrusgebirge. Die Polizei verhindert die Weiterfahrt. "Wir sind das gewöhnt", sagt der 30-jährige Majid, "wir sind an diese Art von Problemen gewöhnt."

Er und seine Frau Fereshte wollen nach Tange Washi. Das ist eine enge, Wasser führende Schlucht knapp zwei Autostunden östlich von Teheran. Die Polizei hält die beiden und viele andere Ausflügler zurück. Begründung: nicht erlaubt.

"Was kannst du gegen deine Regierung machen, wenn die sowas tut?"

Warten, dran bleiben, reden, verhandeln, hinterfragen – das kann man tun, sagt Fereshte und redet auf die Polizisten ein:

"Wir wollen unsere eigene Natur genießen. Wo sollen wir denn sonst hingehen? Sagen Sie's uns und wir fahren da hin. Es gibt keinen anderen Erholungsplatz. Sollen wir etwa zu Hause bleiben? Wir investieren Geld und Zeit, um nach Tange Washi zu fahren."

"Fahr weiter", ruft ein Polizist, "bleib hier nicht stehen". Die Beharrlichkeit der Ausflügler trägt erste Früchte. Es geht auf Mittag zu. In knapp 2600 Meter Höhe brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Das Thermometer ist auf 32 Grad geklettert. Familien mit Kindern und eigenem PKW werden durchgelassen, Busse müssen weiter warten.

"Wir Armen kommen mit dem Bus. Die Reichen kommen mit dem Privatauto und können das jede Woche genießen, wir aber nicht. Was ist denn das für eine Logik?"

Will der Maschinenbaustudent Davud wissen. Ihm ist klar, dass er auf seine Frage keine Antwort kriegen wird. Für diese Straßensperre und die mehrstündige Schikane gibt es keine Logik. Es gibt allenfalls religiös verbrämte Erklärungen. Deshalb probiert eine junge Frau einen anderen Dreh:

"Der Imam Javar Sadigh habe gesagt, man solle die Liebe der Menschen gewinnen", versucht sie den Offizier mit einem erfundenen Zitat zu überzeugen.

Er lacht, alle lachen, trotz des schikanösen Wartens. Dann wird der Weg zur Schlucht für alle frei gegeben.

Schnell fließendes Wasser in einer engen Klamm. Tausende Menschen ergießen sich nach und nach in die Washi-Schlucht und waten in Turnschuhen und langen Hosen durch das kalte Wasser, das ihnen stellenweise bis zu den Oberschenkeln reicht. Schreie der Befreiung, der Erleichterung und der Freude hallen von den engen Sandsteinwänden der Schlucht wider.

"Jeder genießt das, jeder mag das", sagt Firuzeh, die sich in reißender Strömung an einen Felsen klammert. Die Freude über den Triumph der Jugend gegen den Starrsinn des Systems steht der blondierten Frau mit den blau-türkisen Augen und den auffallend rot geschminkten Lippen ins Gesicht geschrieben:

"Die mögen keine jungen Menschen. Die wollen die jungen Leute nicht hierherkommen lassen. Die ertragen es nicht, wenn junge Leute glücklich sind."

Etwa zwei Kilometer ist die Washi-Schlucht lang. In der Mitte öffnet sie sich. Dort grasen Kühe, wachsen Kopfweiden und spielen junge Leute Völkerball. Einige campieren in Zelten, viele picknicken. Unter ihnen ist der 29-jährige Mohammed:

"Die iranische Jugend will Freiheit. Klar, jede Schicht hat eigene Vorstellungen von Frei¬heit. Die Studenten zum Beispiel wollen Redefreiheit, sie möchten bei der Gestaltung der Gesellschaft mitreden. Das wird ihnen verwehrt. Das schafft Probleme."

Eines der Probleme besteht darin, dass jährlich rund 250.000 Iraner das Land mangels Perspektiven verlassen. Darunter sind viele junge, gut ausgebildete Menschen wie Mohammed. Er hat Maschinenbau studiert. Er will den Iran verlassen. Viele seiner einstigen Kommilitonen sind bereits weg: Europa, Nordamerika, Australien. Er liebe sein Land, betont Mohammed, er sei stolz auf dessen einzigartige Kultur. Lange habe er auf eine positive Entwicklung im Iran gesetzt:

"In den vergangenen sieben oder acht Jahren, nach der Amtsübernahme durch Herrn X, ist alles negativ verlaufen. Ich spüre keine Verbesserung, weder für mich noch für meine Freunde. Ich sehe keinen gemeinsamen Enthusiasmus mehr für den Aufbau unseres Landes oder meines Lebens. Ich sehe für mich keine Zukunft hier."

Bamdad hat sein Studium, seine Zukunft, sein Leben noch vor sich. Er ist 20 und hat sich an der Uni in Teheran auf einen Studienplatz beworben:

"Es macht uns Spaß, im Auto mit Freunden zusammen rumzufahren. Es passiert eigentlich gar nichts. Wir hören Musik und schauen uns an, was wir jeden Tag sehen. Naja, eigentlich ist das kein Spaß."

Bamdad möchte Informationstechnologie studieren. Er ist ein Meister der Tastatur, der Internet-Links und Antifilter-Programme. Der Computer, sagt der groß gewachsene junge Mann, bestimme die Zukunft – auch im Iran:

"Was wir am meisten vermissen, ist eine Disko, wo man tanzen kann. Keiner von uns hat sowas hier im Iran bis jetzt erlebt. Anstatt ständig im Auto zu sitzen und Musik zu hören, wäre es schön, wenn wir uns dabei auch ein bisschen bewegen könnten. Es gibt Feten bei Freunden, aber man muss ständig aufpassen, dass nicht Polizei reingestürmt kommt. Ich habe ständig diese Angst ständig in mir, deshalb passe ich immer auf, dass die Musik nicht zu laut wird."

Jung sein, Spaß haben, Freunde treffen, mit der Welt kommunizieren. Die Wünsche von jungen Leuten in Teheran, Isfahan oder Täbris unterscheiden sich nicht viel von denen in Berlin, Madrid oder San Francisco. Aber ihre Möglichkeiten unterscheiden sich erheblich.

"Die Welt, die ich mir geschaffen habe", sagt der 20-jährige Bamdad, "ist auf Facebook. Ich bin darüber enger in Kontakt mit meinen Freunden als in der Wirklichkeit."

Chatten, Fotos posten, Tipps für Schul- und Prüfungsaufgaben austauschen. Das Internet ist für viele iranische Jugendliche eine Informations- und Nachrichtenbörse. Aber es ist noch mehr, es ist ein Fluchtweg aus der konkreten Lebenssituation im Iran:

"Weil es keinen Platz in der realen Welt gibt, habe ich mir eine eigene Welt im Netz geschaffen. Wenn das Internet für zwei Tage unterbrochen ist, bin ich ziemlich unten. Das ist meine einzige Möglichkeit, in Kontakt mit der Welt zu bleiben und mich auf dem Laufenden zu halten."

Facebook, Twitter und andere soziale Netzwerke sind der iranischen Führung ein Dorn im Auge. Deshalb sind sie eigentlich gesperrt. Aber schlaue Nerds wie Bamdad programmieren ständig neue Anti-Filter-Programme, die den Zugang ermöglichen. Die staatlichen Aufpasser versuchen, irgendwie die Kontrolle zu behalten, erklärt die 16-jährige Songol:

"Es gibt auch religiöse Seiten in Facebook, zum Beispiel über Imam Ali. Jetzt wissen sie nicht, ob sie Facebook sperren sollen oder nicht. Es wird jetzt sehr viel von einem islamischen Internet geredet. Ich hab keine Ahnung, was das sein soll. Eine Gesetzesvorlage ist im Parlament, aber ich hoffe, das kommt gar nicht durch. Das ist doch zum Lachen."

Im Netz tauschen sich Menschen aus, verabreden und organisieren sich. Auf Facebook sei vorgeschlagen worden, sich am Freitag zu treffen, erklärt Bamdad. Die Idee sei gewesen, sich gegenseitig mit Wasserpistolen nass zu spritzen.
Mehrere hundert Jugendliche – viele in Begleitung ihrer Eltern – hatten an diesem Freitag einen Riesenspaß, erinnert sich Songol:

"Niemand war mehr trocken. Selbst mein Vater war patschnass. Es ging bis halb zwei. Dann haben sie das Wasser abgedreht. Der Parkwächter hat gesagt, die Leitungen sind verstopft. Wir sollten die Flaschen wegräumen, damit das Wasser wieder aufgedreht werden könne. Zuerst haben alle geschrien, aber dann haben sie doch die Flaschen weggeräumt. Wir sind gegangen, keine Ahnung, was dann passierte."

Nach der Wasserschlacht rückte die Polizei an. Es kam es zu Festnahmen. Minister Reza Taghipour findet die Aktion gar nicht lustig. Natürlich hätten die Jugendlichen mit ihrer Wasserschlacht Normen gebrochen. Es seien viele Familien in dem Park gewesen, die sich durch dieses Verhalten verletzt gefühlt hätten. Nach der Wasserschlacht kam es zu Verhaftungen, berichtete das staatliche Fernsehen.

"Mein Freund ist so gegen 2 Uhr in der Ghandi Str. festgenommen worden. Er hatte neue Klamotten an, war also trocken, aber sie haben gefragt, woher er käme und er sagte, von dem Park. Dann haben sie ihn aufgefordert, ins Auto zu steigen, weil irgendetwas angeblich nicht mit ihm stimmen würde. Er war über Nacht bei der Sitte, dort haben sie ihn fotografiert und er musste versichern, dass er das nicht wieder macht."

Mutmaßliche Normbrecher und Übeltäter werden vorgeführt. Ihre Aussagen klingen nicht nach persönlicher Reue. Sie klingen nach vorgegebenen Statements:

"Die Kopfbedeckung der Frauen war nicht angemessen. Bei einigen war das Kopftuch sogar ganz weg.

Ich habe Fotos auf Facebook gestellt und nicht gewusst, dass alle sie sehen können.

Beim ersten Mal war's vielleicht noch Spaß. Beim nächsten Mal könnte es politische Absichten haben."

Was von den Normen abweicht, wird nicht geduldet. Es wird als politische Absicht, als konterrevolutionär, als gefährlich für Staat und Gesellschaft gedeutet. Selbst eine unscheinbare Schlacht unter Jugendlichen mit Wasserpistolen findet keine Gnade. Kann die Entfremdung zwischen herrschendem Establishment und der jungen Bevölkerungsmehrheit größer sein?

"Ich ärgere mich, ich ärgere mich unheimlich. Aber ich kann nichts machen. Die verhaften mich sonst und ich muss eine Nacht auf dem Revier verbringen. Ich streite stattdessen mit meinen Freunden oder meiner Familie. Das ist ärgerlich."
Drohungen, Sanktionen, vorläufige Festnahmen – die staatlichen Sicherheitskräfte tun alles, damit die iranische Jugend nicht auf dumme Gedanken kommt. Meist gelingt es Bandad, seinen Zorn darüber zu bändigen. Das Internet als Fenster zur Welt hilft ihm dabei. Um ins Netz zu kommen, nutzt der Student eine vpn-Verbindung – ein virtuelles privates Netzwerk, für das er monatlich umgerechnet zwei Euro zahlt. Solange die Leitungen im Iran nicht total gekappt werden, könne sein Weg ins Netz allenfalls verlangsamt, aber nicht gesperrt werden. Das geplante iranische Internet werde daran nichts ändern.

Zwei Drittel der rund 75 Millionen Iraner sind jünger als 30 Jahre. Sie sind nach der Revolution von 1979 geboren worden. Deutlich über 60 Prozent der Iraner leben in Städten, knapp 15 Millionen allein im Großraum Teheran.

Rap-Song: "Das ist Teheran. Eine Stadt, in der alles, was du siehst, dich anlockt. Deine Seele so lange anlockt, bis du feststellst, dass du nur Abfall bist. Hier ist jeder ein Wolf, der wie ein Schaf rumrennt. Lass mich dir die Augen und Ohren öffnen."

Teheran wächst und wächst. Die Bevölkerung ist jung, ist kreativ, ist duldsam – zumindest an der Oberfläche. Wie es heute in den Herzen und Köpfen jener aussieht, die im Sommer 2009 als so genannte Grüne Bewegung millionenfach auf die Straßen gingen, lässt sich nur erahnen.

Rap-Song: "Wach auf, Mann. Ich hab dir so viel zu sagen. Dreh nicht durch wegen dem, was ich gemacht habe. Wach auf, Mann, ich bin Abfall."

Politik ist kein Thema für Irans Jugend – zumindest an der Oberfläche. Durch Internet und Satellitenfernsehen kriegen die Menschen mit, was in den arabischen Staaten vor sich geht. Sie kriegen auch mit, was der Rest der Welt über ihr Land denkt. Songol mag nicht mehr hinschauen:

"Ich hab keinen Nerv, Nachrichten zu gucken, BBC oder CNN. Alles, was über den Iran kommt, ärgert mich. Ich sag mir dann, wir sind echt schlecht dran, dass wir hier aufwachsen müssen. Die sagen nichts Schlechtes über den Iran, aber irgendwie trifft es mich doch. Deswegen meide ich Nachrichten."

Rückzug und Auszug, sagt die 16-jährige Schülerin, sei bei vielen ihrer Freunde die Reaktion auf die politische und gesellschaftliche Realität in ihrem Land. Songol hat wie so viele junge und gebildete Iraner ihre Entscheidung getroffen:

"Ich werde wohl weggehen. Ich will zuerst hier studieren und dann nach Frankreich gehen - wenn ich ein Visum bekomme."
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