"Auf einmal erscheint ver.di als ein ganz lahmer Tiger"

Gerhard Bosch im Gespräch mit Hanns Ostermann · 09.03.2012
Der Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, Gerhard Bosch, hat Verständnis für die Warnstreiks im öffentlichen Dienst geäußert. Für die Gesamtheit der Beschäftigten müsse jetzt entschieden Flagge gezeigt werden, damit ver.di sich nicht in kleine Splittergewerkschaften auflöse, sagte er.
Hanns Ostermann: Wer nicht hören will, der muss – stimmt – fühlen. Das ist nicht nur die Einstellung vieler Eltern den Kindern gegenüber, dieser Grundsatz gilt auch für andere Bereiche – etwa für die Tarifauseinandersetzungen derzeit im öffentlichen Dienst. Seit Beginn der Woche haben Angestellte die Arbeit niedergelegt, um so ihrer Forderung nach mehr Gehalt Nachdruck zu verleihen. Die Gewerkschaften lassen die Muskeln spielen, ein immer gleiches Muster in den Tarifauseinandersetzungen, oder haben sich die Rituale im Kampf um mehr Geld im Verlaufe der Zeit verändert? Darüber möchte ich mit Professor Gerhard Bosch reden, er ist Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen. Guten Morgen, Herr Bosch!

Gerhard Bosch: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Warum rufen die einen wie ver.di relativ schnell zu Warnstreiks auf, und warum gibt es andererseits Branchen wie die Chemie, für die der Arbeitskampf fast ein Fremdwort ist?

Bosch: Da prallen ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander: Die Chemiegewerkschaft hat in den letzten zehn Jahren sehr ordentliche Tarifabschlüsse hingelegt, von 2000 bis 2010 gab es Zuwächse von 28, 29 Prozent. Das ist eine hochproduktive Industrie, und die Arbeitgeber wissen genau, wenn hier gestreikt wird, sind die Einkommensverluste, die Einnahmeverluste für die Unternehmen ganz gravierend, und ein Kompromiss ist besser.

Im öffentlichen Dienst ist die Situation ganz anders: Die Gewerkschaft ver.di, hat relativ wenig rausgeholt im Vergleich zu anderen Gewerkschaften, eine Zunahme von 16 Prozent in den letzten zehn Jahren, also ein Unterschied zur privaten Wirtschaft von mehr als zehn Prozent, und der Staat hat deutlich gemacht, dass er eigentlich nichts anbieten will, und dass er kein Geld hat, weil in der Tat die Kassen nicht so voll sind durch die Steuersenkungen der letzten Jahre.

Ostermann: Nun lässt ver.di in Kitas und anderen Stellen, wo es wehtut, schon nach der ersten Gesprächsrunde mit den Arbeitgebern die Arbeit niederlegen, die Muskeln spielen – ist das taktisch, strategisch eigentlich sinnvoll, so früh die erste Stufe zu zünden?

Bosch: Ich würde sagen, sie wollen zeigen, dass es ihnen ernst ist, weil von der Arbeitgeberseite ja eigentlich kein Angebot vorgelegt wird. Da hat sich auch etwas verändert, also wieder der Vergleich zur Privatwirtschaft, da wurden relativ früh Angebote vorgelegt, während im öffentlichen Dienst gesagt wird, wir haben eigentlich nichts, wir können uns nichts leisten. Und mein Eindruck ist, dass ver.di deutlich machen will, diesmal ist es ihnen ernst, die Wirtschaftssituation in Deutschland ist gut, alle Wirtschaftsexperten sagen, wir brauchen höhere Löhne, damit auch die Importe wieder anziehen und wir den anderen Ländern in der EU helfen. Also da hat sich auch die Sichtweise auf deutsche Lohnforderungen deutlich verändert, nur im öffentlichen Dienst soll das nicht gelten, und ver.di muss hier deutlich machen, wenn sie die eigenen Mitglieder überzeugen will und die andere Seite, dass es ihr diesmal wirklich ernst ist.

Ostermann: Sie haben das eben schon angedeutet: Es ist ihnen ernst, das Zeichen nach außen und das Zeichen nach innen, ein engerer Schulterschluss der Mitglieder?

Bosch: Ja, absolut. Das Gewerkschaftslager hat sich in den letzten Jahren zersplittert, und das erklärt auch zum Teil natürlich die Strategie aller Gewerkschaften, insbesondere ver.di, im öffentlichen Dienst haben sich kleine Gewerkschaften gebildet, die zum Teil dem Beamtenbund angehören, etwa die Bodenkontrolle in Frankfurt, das haben wir ja gerade erlebt. Jetzt erleben wir, dass die Flugsicherheitsassistenten, also die Leute, die uns durchsuchen, wenn wir fliegen, eine eigene Gewerkschaft gebildet haben in Düsseldorf, und die stellen – diese Splittergewerkschaften – stellen sehr hohe Forderungen für ihre Mitglieder.

Und auf einmal erscheint ver.di als ein ganz lahmer Tiger, der nichts mehr für seine Mitglieder herausholt gegenüber diesen aggressiven kleinen Gewerkschaften – und jetzt muss sozusagen Flagge gezeigt werden für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst, damit ver.di nicht sich auflöst in kleine Splittergewerkschaften.

Ostermann: Herr Bosch, haben sich die Rituale in den Tarifauseinandersetzungen eigentlich in den letzten Jahren verändert, oder ist es das immer gleiche Muster?

Bosch: Ich würde sagen, es gibt da gewisse Rhythmen. Die Rituale haben sich nicht geändert, es gibt immer mal wieder den Versuch, vor allem bei der IG Chemie, also in der chemischen Industrie, ohne Rituale auszukommen. Das geht so lange gut, solang die Wirtschaft gut läuft und man sich einig ist. Sobald ein Konflikt kommt, wird man wieder in die alten Rituale zurückfallen – die braucht man wahrscheinlich auch, weil beide Organisationen, nämlich die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind ja Mitgliederorganisationen, und zwischen denen gibt es Spannungen.

Und teilweise brauchen die Arbeitgeberverbände auch eine entschlossen auftretende Gewerkschaft, damit sie überhaupt die Mehrheit für einen Tarifabschluss erreichen. Also dieses Spannungsverhältnis ist in beiden Organisationen da, und Warnstreiks sind absolut nichts Neues. Die IG Metall hat viele Tarifrunden mit Warnstreiks begonnen, da steht ver.di wirklich nicht alleine-

Ostermann: Also ein typischer Ablauf, erst argumentieren, dann beschimpfen, dann streiken oder auch vorher schon mal ein bisschen streiken, dann suchen und schließlich finden – ist das so ein typischer Ablauf?

Bosch: Ja, das Beschimpfen habe ich bis jetzt noch nicht gesehen, ich fand, dass ...

Ostermann: Nein, aber in der Vergangenheit jedenfalls, irgendwann kommt das ja.

Bosch:Ja, ich würde sagen kritisieren, also ich glaube, wenn man mal in andere Länder hineinschaut und sich dort die Tarifpolitik anschaut, dann sieht man, dass es bei uns sehr gesittet zugeht, ein Arbeitskampf ist eigentlich ein ganz normales Instrument. Die Beschäftigten haben ja nichts anderes in der Hand als zu streiken, wenn der Arbeitgeber Nein sagt. Das ist ihr einziges Machtmittel. Und insofern ist der Streik, der gehört zur Demokratie, der gehört zur Freiheit der Gewerkschaften, der ist in unserer Verfassung genau aus diesem Grund verankert. Dass wir gerade als Bürger verärgert sind, wenn im öffentlichen Dienst gestreikt wird und weil wir betroffen sind und das als besonders aggressiv empfinden, das macht natürlich die Brisanz dieser Streiks aus – aber es ist ein normales Arbeitskampfinstrument.

Ostermann: Und komischerweise einigt man sich immer oder sehr häufig tief in der Nacht oder am frühen Morgen. Warum enden Tarifverhandlungen so selten am Nachmittag?

Bosch: Weil über die Feinheiten eben nicht Einigkeit besteht, sondern es wird wirklich die Frage gestellt, wie erreiche ich die Zustimmung meiner Mitglieder, gehe ich in die nächste Arbeitskampfrunde, wie weh muss das Ganze tun. Und dann wird erst unter häufig sehr, sehr hohem Druck dann eine Einigung erzielt. Und der Druck kommt übrigens auch von der Arbeitgeberseite, weil im öffentlichen Dienst zum Beispiel haben bestimmte Länder gesagt, mit euch verhandeln wir nicht mehr, wir scheiden aus aus der Tarifgemeinschaft. Das hat Niedersachsen vor einigen Jahren gemacht, und das ist natürlich ein Drohmittel, was die Gewerkschaft auch zum Einlenken zwingt, weil sie natürlich gerne einheitliche Tarifverträge haben.

Ostermann: Immer häufiger entscheiden Gerichte in den Tarifauseinandersetzungen. Wofür könnte das ein Indiz sein?

Bosch: Immer häufiger würde ich nicht sagen. Die großen Streiks in der Vergangenheit, da gab es immer Gerichtsprozesse. Was neu ist, ist in der Tat jetzt der Streik von Splittergewerkschaften, und da geht es um die Frage der Tarifeinheit. Das Bundesverfassungsgericht ist bis 2010 davon ausgegangen, dass pro Betrieb ein Tarifvertrag gilt – das wurde aufgehoben, und jetzt können in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften Tarifverhandlungen führen, und das führt zu Streitigkeiten, die dann teilweise gerichtlich entschieden werden und die natürlich auch die Gewerkschaftskonkurrenz anheizen, was natürlich dazu führen kann, dass sich da Forderungen auch aufschaukeln.

Ostermann: Gerhard Bosch war das, Arbeitssoziologe an der Universität Duisburg-Essen. Herr Bosch, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bosch: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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