Auf der Suche nach Kindheitserinnerungen

Von Jürgen Salm · 17.11.2005
Wissen Sie noch, was das Lieblingsstofftier Ihrer Kindheit war? Welches Essen konnten Sie als Kind überhaupt nicht leiden? Solche Fragen bekommen Sie gestellt, wenn Sie der neuseeländischen Künstlerin Joanne Moar begegnen. Sie wandert gegenwärtig durch Deutschland, um deutsche Kindheitserinnerungen zu sammeln.
Schöne Zeiten waren das: Eine Insel ohne Müntefering und Stoiber. Stattdessen zwei so liebenswürdige Charaktere wie Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Wer das Buch von Michael Ende früher gelesen hat oder die Fernsehserie kennt, wird sich vielleicht sagen: Du bist Lummerland! Kann aber auch sein, dass man auf der Insel mit zwei Bergen noch nie gewesen ist.

Joanne Moar: "Also ich habe erst letzte Woche erst von Jim Knopf erzählt bekommen, und zwar am Rhein. Da war ein Mann im Anzug, Mittagspause, Jahrgang 71 so wie ich, und der hat ausführlich über Jim Kopf erzählt."

Joanne Moar ist in Neuseeland aufgewachsen. Bis vor kurzem kannte sie weder Jim Knopf noch die Biene Maja, auch der Name Winnetou sagte ihr nichts. Mittlerweile aber hat sie sich einen großen Vorrat an deutschen Kindheitserinnerungen zugelegt, wobei sie den Erinnerungsspeicher ständig erweitert.

Becoming German – so nennt die 34-Jährige ihr Kunstprojekt. Seit einem Jahr ist sie mit einem Laptop und einem Klapptisch auf Rädern unterwegs, um deutsche Kindheitserinnerungen zu sammeln. Damit sorgt sie manchmal für Verwunderung.

Passantin: "Es gäbe viel zu erzählen. Wenn interessiert das?"

Joanne Moar: "Mich interessiert das! Das ist mein Projekt, ich komme aus Neuseeland, ich bin seit knapp elf Jahren hier in Deutschland, und ich versuche meine fehlende deutsche Kindheit nachzuempfinden. Wie war es hier aufzuwachsen?"

Passantin: "Ich bin erstaunt, dass Menschen sich dafür interessieren. Was haben Sie davon?"

Joanne Moar: "Ich bin Künstlerin, das ist ein Kunstprojekt."

Joanne Moar fragt nach Geschwistern, Eltern und Großeltern, nach Stofftieren und Kinderbüchern und natürlich auch nach Kindergeburtstagen. Dann gibt sie die Ergebnisse in ihre Datenbank ein.

Joanne Moar: "Was gab es da zum Essen?"

Passantin: "Auf dem Geburtstag? "

Joanne Moar: "Ja."

Passantin: "Das weiß ich doch heute nicht mehr. Wahrscheinlich Kartoffelsalat und Würstchen."

Joanne Moar: "Das würde meine Datenbank jetzt auch behaupten."

Passantin: "Passt!"

Joanne Moar: "Dann schreiben wir das jetzt hin."

Kartoffelsalat mit Würstchen, diese Antwort taucht immer wieder auf. Auch Kindergeburtstage mit Topfschlagen scheinen prägende deutsche Kindheitserlebnisse zu sein. Joanne Moar hat mittlerweile viele Geschichten gehört. Oft sind es ergreifende Geschichten mit überraschenden Einblicken in lange abgeschottete Erinnerungswelten.

Joanne Moar: "Klar, es gibt Unterschiede zwischen den Generationen. Also die ältere Generation hat sehr viel vom Krieg erzählt, das war sehr prägend natürlich. Die erzählen aber auch durchweg, dass die viel mehr Phantasie haben mussten als Kinder, als die Kinder heutzutage. Und die erzählen viel mehr vom draußen spielen, vom eigene Spiele erfinden. Ein Herr in Hamburg hat mir erzählt, dass er Bombensplitter gesammelt hat und dass er mit seinen Kumpeln dann, dass die Formen gesucht haben in diesen Bombensplittern."

Auf über 3000 Einträge ist die Datenbank "becoming german" mittlerweile angewachsen. Sie steht im Internet zur freien Verfügung. Jeder kann dort seine Kindheitserinnerungen spenden oder eine vom Computer errechnete neue deutsche Kindheit empfangen - ein kunstvolles Spiel um individuelle Erinnerungen und kulturelle Muster. Auch in ihren anderen Arbeiten beschäftigt sich die in Köln lebende Künstlerin mit den Themen Identität und Kommunikation.

Joanne Moar: "Ich habe z. B. in Japan und Korea Arbeiten gemacht, in Korea vor allem , wo ich mich an einen Tisch vor eine Galerie hingesetzt habe in so einem Eingangsbereich, einem Foyer von der Universität, und habe ein Schild auf Koreanisch geschrieben: 'Ich lerne Koreanisch, bitte bringen Sie mir was bei.' Ich saß da immer so ein bis zwei Stunden und hatte meistens ganz viele um mich herum, die irgendwelche Sachen aufgeschrieben haben und mir Sachen beigebracht haben, die die für wichtig gehalten haben, z. B. 'Wann hast Du Geburtstag?'"

"Wann haben Sie Geburtstag?" Diese Frage stellt Joanne Moar auch den Passanten an ihrer mobilen Erinnerungsstation. Schnell wird daraus ein fast schon privates Gespräch. Wenn das vorbei ist, spendet Joanne Moar zum Abschluss als kleine Kindheitserinnerung noch einen roten Lutscher.

Joanne Moar: "Dann klick ich hier, dann ist das eingegeben, also es ist erst einmal auf meiner lokalen Festplatte. Dann gibt es hier ein Dankeschön…"

Passantin: "Oh, ein Bonbon!"

Joanne Moar: "Damit es sich gelohnt hat!"

Passantin: "Für zwei Pfennig! Dankeschön. Da bin ich früher zum Kaufmannsladen gegangen und habe mir die ausgesucht."

Joanne Moar: "Das ist Kindheit!"

Passantin: "Das ist Kindheit!"