Auf der Suche nach Gerechtigkeit

13.07.2011
In seinem Buch "Das Recht der Freiheit" geht der Philosoph Axel Honneth dem Begriff der Gerechtigkeit nach. Er stellt dabei keine normativen Prinzipien, sondern eine praktische Gesellschaftsanalyse in den Vordergrund. Eine lohnende und dringliche Herausforderung, meint unsere Rezensentin.
Wenn Philosophen über Gerechtigkeit nachdenken, dann meist abstrakt. Im Vordergrund stehen normative Prinzipien, denen eine Gesellschaft zu folgen hat, wenn sie gerecht sein will. Axel Honneth, Philosophieprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt und einer der wichtigsten noch aktiven Vertreter der Kritischen Theorie, geht umgekehrt vor: Ihn interessiert die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sich gerechtes Handeln bereits vollzieht. Damit will er nicht behaupten, dass unsere Gesellschaft gerecht wäre. Vielmehr will er nachzeichnen, wie gesellschaftlich geteilte Werte in konkreten Institutionen realisiert werden, um so gleichzeitig auf Fehlentwicklungen hinweisen zu können.

Jener Wert, der die institutionelle Ordnung der modernen Gesellschaft nachhaltig geprägt hat, ist Honneth zufolge die "Freiheit im Sinn der Autonomie des Einzelnen". Das Ideal der Selbstbestimmung ist es, das im Zuge der Geschichte immer nachdrücklicher zur Entfaltung kommt und an dem wir uns automatisch orientieren, wenn wir darüber nachdenken, was gerecht ist.

Doch der Wert der individuellen Freiheit ist an sich noch kein Garant für Gerechtigkeit. Deshalb unterscheidet Honneth – und in dieser klugen wie souveränen Differenzierung liegt eine wesentliche Stärke des Buches – drei verschiedene Formen der Freiheit. Von denen vermag aber nur eine tatsächlich Gerechtigkeit hervorzubringen. Die zwei unzureichenden Formen von Freiheit sind die "rechtliche" und die "moralische" Freiheit. Die Wirklichkeit der Freiheit manifestiert sich für Honneth allein in einem dritten Freiheitstypus: nämlich im Hegelschen Ideal der wechselseitigen Anerkennung. Die eigenen Wünsche und Ziele lassen sich nur realisieren, wenn der Andere die seinen ebenfalls verwirklicht. Ich und Du, Individuum und Gesellschaft sind somit zutiefst aufeinander angewiesen. Gerade darin besteht das Wesen der intersubjektiven Freiheit. Frei ist nur, wer sich der Abhängigkeit vom Anderen bewusst ist und diese Abhängigkeit ins eigene Wünschen übersetzt.

Im letzten und größten Teil seines Buches zeigt Honneth schließlich, wie sich diese Anerkennungsstruktur in heutigen institutionellen Praktiken manifestiert. In ausführlichen Kapiteln widmet er sich der sozialen Realität heutiger persönlicher Beziehungen, des marktwirtschaftlichen Handelns, der demokratischen Willensbildung und beleuchtet dabei immer auch die tiefe Dialektik zunehmender Freiheit. Die moderne Intimbeziehung etwa beruht nicht länger auf Traditionen und Satzungen, sondern einzig auf den Individuen selbst. Diese Reduzierung aufs Gefühl, die eine auf wechselseitiger Anerkennung beruhende Liebe ermöglicht, birgt auch die Gefahr von Bindungsunfähigkeit in sich – und zwar vor allem dann, wenn Leistungsdruck und Selbstoptimierungszwang das Funktionieren von Beziehungen untergraben. Auf dem Arbeitsmarkt selbst, so Honneth, vollziehe sich seit den 1990er-Jahren ein kollektiv erfahrbarer Anerkennungsverlust. Doch trotz ungesicherter Arbeitsverhältnisse, Unterbezahlung und dem Zwang zu ständiger Verfügbarkeit empöre sich niemand, sondern jeder suche die Schuld bei sich.

Honneths Gesellschaftsanalyse ist überaus erhellend, in Teilen aber wirkt sie holzschnittartig: etwa seine Ausführungen zur Familie, deren Wandlungsprozesse er mitunter nachgerade romantisch verklärt. Eine Gerechtigkeitstheorie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf eine Gesellschaftsanalyse zu gründen, bleibt somit eine ebenso lohnenswerte wie dringliche Herausforderung. Den Grundstein hierfür hat Axel Honneth mit seinem Werk gelegt.

Besprochen von Svenja Flaßpöhler

Axel Honneth: Das Recht der Freiheit
Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit
Suhrkamp, Berlin 2011
628 Seiten, 34,90 Euro