Auf der Suche nach der verlorenen Moderne

Andreas Hüneke im Gespräch mit Joachim Scholl · 04.09.2013
Seit zehn Jahren klären Kunsthistoriker systematisch das Schicksal von 21.000 Kunstwerken, die von den Nazis beschlagnahmt, verkauft oder zerstört wurden. Andreas Hüneke, Mitbegründer der Forschungsstelle, will die für jedermann zugängliche Datenbank noch um Literatur und Biografien erweitern.
Joachim Scholl: Im Juli 1937 wurde in München die Ausstellung "Entartete Kunst" eröffnet, eine besonders perfide Propagandaaktion der Nazis, um moderne Kunst als undeutsch, krank, eben als "entartet" zu schmähen. Parallel zu dieser Schau bereiste eine Kommission deutsche Museen und beschlagnahmte rund 21.000 Bilder der Moderne von mehr als 100 Künstlern wie Emil Nolde, Marc Chagall oder Ernst Ludwig Kirchner. Viele wurden gegen Devisen einfach verscherbelt, viele aber auch vernichtet, und von zahlreichen Kunstwerken verliert sich zum Kriegsende die Spur.

Seit zehn Jahren ist ja nun die Forschungsstelle "Entartete Kunst" an der Freien Universität Berlin aktiv, mitbegründet von dem Kunsthistoriker Andreas Hüneke, er ist jetzt im Studio. Guten Tag, Herr Hüneke.

Andreas Hüneke: Guten Tag.

Scholl: Von der Hälfte der 21.000 Werke weiß man, was mit Ihnen passiert ist, von einem Fünftel hat man Kenntnis darüber, wo sie sich heute befinden, das ist schon mal eine stattliche Bilanz Ihrer Arbeit. Sind Sie damit zufrieden?

Hüneke: Ja, sicher, die Forschungen sind ja möglich geworden in diesem Umfang eben durch die Gründung der Forschungsstelle "Entartete Kunst". Ich selbst beschäftige mich sehr viel länger schon mit dieser Thematik und habe sozusagen die Grundlagen dafür zusammengetragen zunächst, und dann ist eben auf Initiative der Ferdinand-Möller-Stiftung in Berlin diese Forschungsstelle gegründet worden an der freien Universität, und dadurch ist das alles auf einer breiteren Basis jetzt und kann wesentlich schneller und effektiver auch und umfassender behandelt werden, als das im Alleingang möglich wäre.

Scholl: Seit 2010 gibt es eine entsprechende Datenbank, die Sie eingerichtet haben mit allen Forschungsergebnissen aus diesen Jahren. Wie haben Sie recherchiert, Herr Hüneke, wie konnten Sie das Schicksal dieser Zigtausend konfiszierten Werke klären?

Hüneke: Die Nationalsozialisten haben also ein Inventar angelegt, in dem sie die beschlagnahmten Werke verzeichnet haben. Aber erstens war in dem Zentralen Staatsarchiv der DDR, wo das damals lag, diese Unterlagen, nur der erste Band davon vorhanden, der zweite war verloren gegangen, der erste Band umfasst die Museen von Aachen bis Greifswald. Und zweitens sind die Einträge sehr rudimentär: Es steht als nur der Nachname der Künstler da, ein Titel, der oft von den Inventarisierenden selbst gegeben wurde nach dem, was sie da sahen und erkannten. Die Technik ist nicht genau, keine Maße – also man muss die Werke erst mal identifizieren.

Das geht eben mithilfe der Unterlagen der einzelnen Museen oder mithilfe von Fotografien verschiedener Herkunft bis hin zu den Fotografien von den Ausstellungen "entarteter Kunst" während der Nazizeit. Es ist dann 1997 in London im Victoria and Albert Museum ein vollständiges Exemplar dieses Inventars aufgetaucht, und seitdem konnte das überhaupt ins Auge gefasst werden, ein so vollständiges Verzeichnis herzustellen und eine Datenbank daraus zu machen.

Scholl: Von der Hälfte der 21.000 Werke, wie gesagt, weiß man, was mit ihnen passiert ist. Was ist mit den anderen geschehen, was weiß man da?

Hüneke: Ja, es ist eigentlich so, dass die Hälfte jetzt in der öffentlich zugänglichen Datenbank im Internet abrufbar ist. Also gut 10.000 Werke sind da jetzt einzusehen, die anderen müssen wir eben auch weiter bearbeiten. Das wird schneller gehen als bisher, weil wir schon viele Angaben da eingetragen haben, natürlich, aber es bedarf immer zum Schluss noch einer genauen Überprüfung, ob das alles auch in der gleichen Form eingetragen ist und ob irgendetwas fehlt, eine Angabe und so. Deswegen wird das nach und nach erweitert, diese öffentlich zugänglichen Datenbanken.

In unserer Arbeitsversion sind die Werke alle verzeichnet. Von vielen weiß man natürlich nicht, wo sie gelandet sind, wo immer noch die Möglichkeit besteht, dass sie auftauchen oder dass man Kenntnis davon erhält, etwa vor allen Dingen bei Grafiken. Der größte Teil besteht natürlich aus Druckgrafik, und das muss man sehen, das ist etwa ein Viertel des Gesamtbestandes. Das sind Unikate, also Gemälde, Plastiken, Aquarelle, Zeichnungen, bei den anderen handelt es sich um Druckgrafiken.

Scholl: Zehn Jahre gibt es die Forschungsstelle "Entartete Kunst" in Berlin – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Andreas Hüneke. Man ist irritiert, Herr Hüneke, wenn man hört, dass anders als bei der sogenannten Raub- und Beutekunst bei den als "entartet" beschlagnahmten Werken keine Restitutionsansprüche geltend gemacht werden können. Warum das denn?

Hüneke: Die Werke sind ja vom Staat eingezogen worden, und es gab dazu dann ein Gesetz zur entschädigungslosen Einziehung dieser Werke, die praktisch ja auch schon in öffentlichem Besitz sich befanden. Man hat also erstens mal dieses Gesetz nicht aufgehoben nach dem Kriegsende, weil sich die Wiedergutmachungsgesetze, die dann erlassen worden sind, eben ausdrücklich auf rassisch und politisch Verfolgte beziehen. Und die Museen können also dazu nicht gehören, deswegen gibt es da keine solchen Wiedergutmachungsgesetze im Bezug darauf, und daraus ergibt sich eben, dass die Verkäufe, die da erfolgt sind, auch rechtmäßig erfolgt sind. Es gibt nur wenige Ausnahmen dabei, wenn es sich nämlich um Werke handelt, die aus Privatbesitz sich in den Museen befanden und dann eben also aus einer jüdischen Sammlung etwa stammen und deshalb in diesen öffentlichen Besitz eigentlich gelangt sind.

Scholl: Wie offen sind denn Museen oder auch Sammler, wenn sich herausstellt, dass sie ein solches "entartetes" Kunstwerk besitzen?

Hüneke: Also deswegen betonen wir auch immer diese Tatsache, dass da eben keine Restitutionsansprüche bestehen, damit sich da die Türen öffnen. Es ist natürlich klar, wenn die Gefahr besteht, dass man ein solches Werk verliert, die Auskunftsfreudigkeit geringer ist.

Scholl: Ja, verliert man denn ein solches Bild? Also Sie identifizieren jetzt ein Kunstwerk, finden ein Kunstwerk, das also in dieser Beschlagnahmungsaktion konfisziert wurde, in irgendeinem Museum wird es wiedergefunden, stammt aber aus Museum XY. Heißt das dann, dass das Museum XY sagt, aber wir möchten es wiederhaben, oder das andere Museum sagt, wir geben es zurück, oder ist das dann auf Gutdünken?

Hüneke: Nein, das bleibt in dem Museum, wo es sich befindet, und genau so ist es in Privatbesitz. Es ist allerdings eine andere Sache, dass ja Privatbesitz sich auch immer wieder verändert. Da ist es manchmal eben, wenn es sich um wichtige Stücke aus einer Sammlung handelt, die eben auch für die Sammlungsgeschichte dieses Museums Bedeutung haben, ist es dann gut, wenn da ein Kontakt zwischen den Sammlern oder ihren Nachkommen und dem Museum schon entsteht und man verhandeln kann über einen Rückerwerb.

Das Museum muss es dann kaufen, aber da ist in jedem Fall eine solche direkte Verhandlung für das Museum aussichtsreicher, als wenn die Werke dann erst in ein großes Auktionshaus gelangen, und bei der Explosion der Preise oftmals dann unerreichbar sind für das Museum.

Scholl: Zehn Jahre ist Ihre Forschungsstelle, Herr Hüneke, bei der Arbeit, Sie sagten selbst, alle Werke sind zumindest in der Arbeitsversion verzeichnet. Hoffen Sie denn, das Projekt irgendwann einmal abschließen zu können?

Hüneke: Also die Datenbank in dieser konzentrierten Form sicher, wir werden sie allerdings erweitern. Wir haben ja jetzt schon Literatur hinzugefügt, wir werden sie noch erweitern um genauere Biografien der Künstler, weil das auch ganz wichtig ist, auf welche Weise sie in der Nazizeit tatsächlich Verfolgung erlitten haben, das steht in den Katalogen immer nur sehr pauschal und oberflächlich. Und um diese Vorgänge genauer kennenzulernen, muss man natürlich auch in den Einzelfällen wissen: Was ist da wirklich passiert, hat er Ausstellungsverbot gehabt oder ist da nur eine Ausstellung verboten worden? Wie ist das mit Berufsverbot, Malverbot?

Ausdrückliches Malverbot kennen wir nur bei drei Künstlern wirklich, Berufsverbot ist natürlich verbunden mit dem Ausschluss aus der Reichskulturkammer, die eben die Voraussetzung war für eine berufliche Tätigkeit in der Kunst, da, in dem weiteren Umfeld, gibt es noch sehr viele Felder, die weiter bearbeitet werden können.

Scholl: Danke Ihnen, Andreas Hüneke, für Ihren Besuch, alles Gute Ihnen für diese Arbeit. Zehn Jahre Forschungsstelle "Entartete Kunst" – Andreas Hüneke hat sie als Kunsthistoriker mitbegründet, und zur Feier des Jubiläums findet ein Symposion statt, das morgen beginnt an der Freien Universität Berlin. Alles Gute Ihnen, Herr Hüneke.

Hüneke: Danke sehr.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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