Auf der Suche nach dem irgendwie ganz Anderen

Von Dietrich Kirsten · 16.10.2010
Religion, Spiritualität, Glaube, Transzendenz – immer wieder findet sich religiöses Vokabular in der öffentlichen Sprache. Zur Klarheit trägt die wachsende Bedeutung und Beliebtheit der einzelnen Begriffe selten bei.
Wochenlang hielten die Mönche des Zisterzienserstifts Heiligenkreuz im Jahr 2008 die Top-Position in den Verkaufshitparaden. Hörer äußerten Lobeshymnen wie:

"Paradiesisch schöne Gesänge, die die Seele öffnen für das Geheimnis des Lebens und der Liebe, zugleich mit Andacht und spiritueller Tiefe, sodass man beim Hören mit entschweben kann - so ein bisschen ins Paradies."

Auf den ersten Blick scheint alles klar: Religion, in diesem Fall die katholische, und ihre Vertreter finden ganz neue Anhänger weit außerhalb der Kirchenmauern. Aber werden die singenden Zisterzienser wirklich als Vertreter einer Religion wahrgenommen – oder doch eher als Boten einer freundlichen, menschenzugewandten, bereichernden Version von Religion – der Spiritualität? "Kraftwerk Religion” nennt sich eine aktuelle Ausstellung im Dresdner Hygienemuseum – der atheistische Rezensent einer überregionalen Tageszeitung lobt das fehlende Bekenntnis zu einem der vielen vorgestellten religiösen Systeme, "Wohltat und Labsal” sei das. Ein christlich-evangelikales Magazin dagegen beklagt genau diese Vielfalt, kein "Raum der Stille” sei im Museum zu finden, sondern einer der Unruhe. Sollte eine Ausstellung von symbolischen Gegenständen verschiedener Religionen etwa selber ein religiöses Ereignis sein, das womöglich zu spiritueller Praxis einlädt? Und weist ein Ausstellungstitel wie "Kraftwerk Religion” nicht eher in die Welt von Wellness und Auftanken für den Alltag – und damit wieder in die Spiritualität? Zwei Beispiele, die zeigen: eine Begriffsklärung könnte hilfreich sein.

"Es gibt mehrere Vermutungen zur Herkunft des Wortes "Religion”. Zum einen: die Ableitung vom lateinischen "religare”, das heißt: anbinden, rückbinden an einen Ursprung. Die zweite Möglichkeit ist die Herkunft von "relegere”, wiederlesen, also sich einem Gegenstand immer wieder zuwenden und ihn zur Kenntnis nehmen. Schließlich wird auch eine Ableitung von "re-eligere” vorgeschlagen, wieder auswählen, betont also die erneute Entscheidung für etwas, vielleicht sogar den Bekenntnischarakter. Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs gibt es nicht."

"Primär bin ich in aller Linie erstmal Fußballfan. Und da ich selber auch sehr gerne Fußball spiele, gab es für mich nie ein anderes Thema. Fußball, Fußball, nochmals Fußball."

Gordon lebt für seinen Verein, den BFC Dynamo Berlin.

"Fußballfan sein heißt in jedem Fall auch Verzicht. Man selbst muss halt viele Opfer bringen, die Familie muss halt viele Opfer bringen, und man muss eben dann aufpassen für sich selber, dass man ein gewisses, gesundes Maß nicht überschreitet, sag ich mal."

Gordons Leben kreist um den Fußball. Der Fußball gibt seinem Leben Sinn, und jedes Wochenende feiert er seine Messe.

"Und dann gehen wir zum Stadion, wenn wir nicht sowieso schon da sind. Und dann wird halt gefeiert nach Herzenslust, das ist ja primär das, weswegen man eigentlich da ist. Wir speziell gehen drüben auf die Gegengerade, machen einen tierischen Radau, versuchen, die Mannschaft zu pushen, dazu kommt das Event an sich, da kommen die vielen Leute, man sagt erstmal Hallo, holt sich sein Bier, setzt sich hin, die Mannschaften laufen ein, das ist in gewisser Weise wie ein Ritual, kann man schon sagen. Ein quasi sich wiederholendes, aber die Spannung ist jedes Mal neu wieder da."

Rituelle Gesänge, Gesten, Kleidung: dass die Abläufe im Fußball-Stadion viel gemeinsam haben mit dem Ablauf eines christlichen Gottesdienstes, ist inzwischen wohluntersucht.

Events wie der Weltjugendtag mit seiner Papstbegeisterung oder auch Kirchentage werden von den Kirchen zwar als Beleg für die Stärke der christlichen Religion gegenüber allen modernen Ersatzreligionen gewertet. Doch das Verhältnis ist keine Einbahnstraße: die Kirchen übernehmen gerade für ihre Großereignisse viel vom Sport und seiner Inszenierung. Die Frage ist aber, ob der Sport selber auch Religion ist.

"Es erfüllt eindeutig religiöse Funktion, wie zum Beispiel auch der Nationalstaat, wie wir wissen und gar nicht so lange her, religiöse Funktion erfüllt hat."

Hubert Knoblauch, Professor für allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin.

"Nun sollte man aber unterscheiden zwischen der Funktion des Religiösen und der Religion. Weil die Religion bei uns eine sehr bestimmte, klare Institution ist, die ihre Grenzen, in der katholischen deutlicher, in der evangelischen weniger deutlich, sehr klarmacht. Wenn man also sprachlich sagt, der Sport ist eine Religion, redet man eigentlich dummes Zeug, jedenfalls in unserer Kultur."

"Religion bezeichnet ein umfassendes System. Das mit Glauben und Spiritualtät zu tun hat."

Wolfgang Bittner erforscht die Religion, wenn er christliche Spiritualität an der Berliner Humboldt-Universität lehrt. Er kennt als Meditationslehrer aber auch die Innenperspektive.

"Religion, das Besteht aus einer Weltanschauung, die ich dann teile mit anderen, diese Weltanschauung baut auf einer Grundgeschichte auf, und zwar unabhängig, ob das jetzt im Christentum ist oder im Islam oder im Buddhismus, ich leite aus dieser Grundgeschichte Grundwerte ab, die für mein Verhalten gelten, also ein Wertsystem, eine Ethik, ich teile mit den Menschen, die mit von dieser Grundgeschichte kommen, Glauben und wir feiern zusammen, das heißt, es bildet sich eine Art Liturgie, von dort her prägt sich auch die Spiritualität, die der einzelne hat, vor allem gehört dazu, dass uns wir uns auch organisieren, wenn das auch nur ganz minimal ist, das heißt jede Religion hat auch einen Aspekt der Institutionalität."

Bestimmte Praktiken, Organisationsformen und vor allem: die Fähigkeit, dem Leben Sinn zu geben – das wäre der sogenannte funktionalistische Religionsbegriff. Mit ihm kann man den Staat, die Nation, den Fußball oder auch die fanatische Verehrung eines Popstars zur Religion erklären. Ob diese Religion auch einen Gott hat, ist für diese Betrachtung nicht notwendig. Nach ihm fragt die sogenannte substantialistische Deutung. Aber wenn man Aussagen über mehr als eine bestimmte Religion machen möchte, muss man es auch hier allgemeiner halten. Denn es steht zum Beispiel ja außer Frage, dass der Buddhismus eine Religion ist, auch wenn in ihm kein personaler Gott verehrt wird. Hier hilft ein Begriff, der in der öffentlichen Diskussion um Religion, Spiritualität und Glauben selten eine Rolle spielt. Es ist der Begriff der Transzendenz.

Transzendenz – abgeleitet vom lateinischen "transcendere", übersteigen. Transzendentes übersteigt den Bereich des Empirischen, der Vernunfterkenntnis Zugänglichen. Es ist mit einem Verstandesurteil nicht zu erfassen. Der religiöse Mensch kann das Transzendente Gott nennen.

"Ich bin mir sicher, dass jedes wirklich gute komponierte Stück nicht nur einen sehr eigenen Charakter, sondern auch eine sehr eigene Energetik und eine sehr eigene transzendente Qualität hat."

Thomas Noll ist Musiker. Er hat sich besonders der zeitgenössischen Orgelmusik verschrieben und der Kunst der Improvisation.

"Weil ich grade mit einem Projekt beschäftigt bin, was über die konventionelle Orgelmusik hinausgeht und wo ich sehr viel mit den Techniken des partiellen Pfeifenansprechens arbeite, wodurch eben keine klaren Töne mehr kommen, sondern ein Sammelsurium von Obertönen, und das ist so, als würde man auf einmal einen einfarbigen Lichtstrahl brechen und ein Prisma von Tausenden von Farben herauskriegen. Das ist ein Hörerlebnis, was, als ich es das erste Mal gehört habe in einem Konzert, es mir das Ganze Koordinatensystem aufgehoben hat, also, ich hatte das Gefühl, meine ganzen Organe schwimmen irgendwie durch meinen Körper, und was in der entsprechenden Akustik eben wirklich Erlebnisse zeitigt, die einen entführen in andere Welten."

Musik lässt Räume und Dimensionen erahnen, oft nur für einen Moment, wie hinter einem durchscheinenden Schleier – für Thomas Noll heißt das: Transzendenz. Die ist natürlich eine persönliche Erfahrung. An diese Transzendenz kann man sich aber bewusst annähern, mit rationalen Methoden.
Olivier Messiaen zum Beispiel hat dafür Vogelstimmen in seine Kompositionen übertragen.

"Wenn die Stimme des Menschen versagt, dann knüpfe ich bei der Stimme Gottes an, die sich mir in der Natur, nämlich in den Vögeln, mitteilt. So ungefähr die Argumentation.Und in seinem letzten Orgelzyklus beispielsweise hat er mehrere Vogelstimmen miteinander kommunizieren lassen an der Stelle, wo das Geheimnis des Saint Sacrement, da geht es einfach um die heilige Eucharistie in dem anderthalbstündigen Zyklus, wo das Geheimnis nicht mehr verbalisierbar ist, nämlich das eigentliche heilige Geschehen, da kommen auf einmal die Vogelstimmen ins Spiel. Interessanterweise dann auch noch welche aus Israel. Dem heiligen Land."

"All das hat handwerklich bei den Menschen eine Hörerfahrung ermöglicht, die das, was sie kannten, überstieg und damit schon Neues, Erweiterndes, Transzendentes ermöglicht hat. Das funktioniert heute eben auch nicht mehr, weil die Musikentwicklung ja weitergegangen ist."

Dass im Bereich des Religiösen etwas aus der Mode kommen kann, ist eine eher überraschende Erkenntnis. Sollte Gott nicht ewig sein? Wer versucht, dieses Göttliche durch das Reden von Transzendenz zu erfassen, lässt sich vor allen Dingen erst einmal auf das Menschliche ein.

"Man kann Transzendenz denken, indem ich mir vorstelle, dass alles, was hier wirklich ist, was den Sinnen zugänglich ist, dass es etwas drüber hinaus gibt, was noch jenseits dessen, was mit den Sinnen zugänglich ist, das es das gibt. Das ist ein reiner Denkvorgang. Eine Denkvoraussetzung. Daneben würde ich stellen den Weg der Transzendenzerfahrung, dass Menschen sagen: da hab ich was erfahren."

Solch eine Erfahrung muss gar nicht durch etwas ausgelöst werden, was man sich im herkömmlichen Sinne als religiös oder göttlich vorstellt, sagt Wolfgang Bittner. Der Marxismus zum Beispiel habe mit seinem Heilsversprechen einen ungeheuer weiten transzendentalen Horizont geöffnet. Doch der Verweis auf Transzendenz bietet sich natürlich auch als Kriterium an, um die Vielfalt religiöser Phänomene zu ordnen. Religionssoziologe Hubert Knoblauch:

"Die Alltagswelt, in der wir hier sitzen und miteinander reden, und nicht eine göttliche Hand von außen eingreift, kein Heilwunder geschieht, kein heiliger Geist mir erscheint, in der das nicht vorkommt, das ist die Welt des Alltags, die haben wir sehr genau beschrieben, und das, was diese Welt des Alltags überschreitet, das würden wir als große Transzendenz und nicht als religiös, aber als Grundlage für Religion ansehen."

So hilfreich die Rede von der Transzendenz sein mag für den Soziologen, der religiöse Phänomene ordnet: die ganz normalen Gläubigen können mit ihm wenig anfangen. Das ist zumindest die Erfahrung von Thomas Noll, der als freischaffender Organist viel in Kirchen unterwegs ist.

"Das ist eigentlich gar nicht ihre Sprache. Das Verrückte ist ja, dass der Begriff der Transzendenz eher im esoterischen Bereich zu Hause ist, aber im Alltag der Kirche kommt das wirklich nicht vor."

Gerade deshalb ist der Begriff der Transzendenz so ein guter Maßstab, sagt der Soziologe Hubert Knoblauch. Denn wer nachfragt, wo denn wirklich diese Erfahrungen gemacht werden, die alle Dimensionen des Bestehenden überschreiten, merkt schnell: Menschen verlassen die Religion in ihrer festgefügten Form – die Suche nach Transzendenz geben sie damit nicht auf.

"Ich hab ja immer mein altes Beispiel der Nahtoderfahrungen, also Todesnäheerfahrungen. Die klassischerweise im Abendland eine urchristliche Transzendenzerfahrung sind. Klassische Transzendenz: Sie sind nicht woanders, aber Sie erfahren das Jenseits am eigenen Leib. Diese Erfahrungen sind seit Paulus Teil der christlichen Tradition und wurden auch immer christlich gedeutet, bis ins 19. Jahrhundert, als plötzlich eine säkulare Tradition auftritt, sehr stark im 20. Jahrhundert, von Todesnäheerfahrungen, die gemacht von Menschen, die nicht religiös sind, oder in denen auch keine religiösen Motive auftreten. Ich würde diese Erfahrung in diesem Fall als spirituell bezeichnen."

Spiritualität – vom lateinischen "spiritus”, Geist, Hauch, beziehungsweise "spirare”, atmen. Beschreibt meist einen geistigen, aber auch erfahrungsbezogenen Zugang zum Transzendenten. Häufig benutzt, positiv besetzt, aber schwer zu bestimmen.

"Natürlich, ich würde sagen, ich gehe einen spirituellen Weg, ich bin ein religiöser Mensch, und ich bemühe mich darum, mit dem, was ich tue, diese Qualität ins Leben zu bringen."

Rosmarie Jäger ist Psychotherapeutin.

"Wenn ich hier an der Ecke zum Bäcker gehe, hier ist eine ganz nette Bäckerin, wo die Handwerker morgens kommen, und die hat einen Spruch auf den Lippen und gibt den Menschen Kraft und Freude, da denke ich: ja, darum geht es! Das ist es. Dass wir im Alltag einander so begegnen, dass wir füreinander da sind, und uns unterstützen und klar die eigenen Bedürfnisse formulieren, dass Dialog entstehen kann. Das ist es: Leben! Der Begriff Spiritualität hat für mich keine Faszination mehr."

Rosmarie Jäger ist getaufte Protestantin. Sie war bei den Sufis, hat beim katholischen Zen-Meister Willigis Jäger Kontemplation geübt und ist inzwischen Mitglied der anthroposophischen Christengemeinschaft. Ihre Erzählungen klingen wie das, wovor Kirchenvertreter warnen, wenn sie Spiritualität als Religion light verunglimpfen. Aber leicht, sagt sie, leicht hat sie es sich noch nie gemacht mit ihrem Streben nach einem spirituellen Leben. Ihr Tag ist gefüllt mit geistigen Übungen.

"Das finde ich auch die wesentliche Übung, die Übung der Präsenz. Dass eine innere Stille da ist. Und meine Woche beginnt damit, dass ich Montags früh in der Christengemeinschaft auch ministriere. Das ist für mich wirklich eine absolute Kraftquelle für die Woche und für meinen Alltag, weil ich da aus der Haltung der Kontemplation über diesen Kultus mit diesem Mysterium der Wandlung auch in Berührung bin. Dann gehört für mich auch die Rückschau dazu, also als eine Übung abends mir den Tag noch mal anzuschauen."

"Früher wars halt so, wenn nichts mehr gelaufen ist, dann wurde man sozial oder wurde politisch oder wurde befreiungstheologisch – wahrscheinlich ist Spiritualität auch etwas wie eine Modebewegung."

Eine Mode, die inzwischen wieder in den Kirchen angekommen ist: Wolfgang Bittner ist Beauftragter für Spiritualität in der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche. Bittner soll den müden Glauben kirchlicher Mitarbeiter wieder lebendig werden lassen, neue Inspiration für Gebet oder Bibellektüre vermitteln.

"Aber sie ist nicht nur Mode, sie hat mit Sehnsüchten von Menschen zu tun, auch mit Ängsten von Menschen in einer Welt, die immer komplizierter wird, da machen die Menschen sich eben auf die Suche nach einer Dimension, die sie umgibt, und in diesem Bereich ist Spiritualität eben zuhause, und ich würde sagen, da ist eigentlich die Kirche auf ihrem ureigenstem Feld befragt und da hat sie auch was zu geben."

Allerdings sind die Kirchen längst nicht mehr die alleinigen Vermittler von Spiritualität. Sie teilen sich das Feld mit einer unübersehbaren Vielfalt fernöstlicher, vor allem buddhistisch inspirierter Meditationsformen. Und sie müssen sich auseinandersetzen mit Anbietern, die ganz außerhalb jeder Bindung an ein religiöses System stehen.

"Ben Becker – Bibellesung: Ja, ich komme bald. Amen. Ja, komm Herr Jesus. Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen."

Weniges zeigt den Wandel in der religiösen Deutungshoheit deutlicher an als der ungeheure Erfolg, den der Schauspieler Ben Becker in den letzten Jahren mit seiner dramatischen Bibellesung hatte: "Die Bibel – eine gesprochene Symphonie" begeistert das Publikum in Konzertsälen, ist perfekte Show – und bietet ein spirituelles Erlebnis.

"Eines der Merkmale des Spirituellen ist etwa die immense Bedeutung der Erfahrung. Der Transzendenzerfahrung. Und zwar nicht, dass Jesus sie gemacht hat, sondern, dass der Mensch das am eigenen Körper gemacht hat. Eine gewisse dogmatische Marginalität gehört zum Spirituellen dazu, zum Spirituellen gehört sicherlich auch eine gewisse Distanz zu religiösen Organisationen, und es gehört sicherlich auch eines dazu, was selbst die randständigsten New-age-Traditionen mit dem Fundamentalismus teilen und mit sehr populären Bewegungen teilen, nämlich eine gewisse Vorstellung der Ganzheitlichkeit."

Spiritualität hat einen guten Ruf bei denen, die der prägenden Religion in Gestalt der Kirchen kritisch gegenüberstehen: Spiritualität gilt als sanft, nicht auf Macht und Einfluss ausgerichtet, gut für den einzelnen.

"Ich glaub, es gibt keine Spiritualität ohne die Aufgabe der Geisterunterscheidung. Das ist ein Fachbegriff: dass man ernstnimmt, wenn so etwas Spirituelles sich zu Wort meldet, muss man damit rechnen, dass das ganz verschiedene Stimmen sein könne. Es gibt einen schönen Vortragstitel: wenn alles schweigt, wer redet dann? Man soll ja nicht meinen, dass das, was dann in Schweigen redet, einfach Gottes Stimme ist. Das gehört noch gehörig auf den Prüfstand. Das wäre dann die Aufgabe des Gesamtentwurfes Religion, Spiritualität dann auch zu prüfen."

Die Gegenüberstellung von machtorientierter, institutionalisierter Religion auf der einen Seite und guter, absichtsfreier, am Einzelnen orientierter Spiritualität auf der anderen funktioniert so nicht. Beide stellen nicht nur die Frage nach der zugrundeliegenden Transzendenz, beide fragen auch nach dem Glauben und damit nach der persönlichen Verbindlichkeit.

Glauben kommt vom mittelhochdeutschen "gelouben", etwas gutheißen, daher auch das Für-Wahr-Halten eines Sachverhaltes, unabhängig oder vor Prüfung der Fakten. Der religiöse Glaube betont die Entscheidung für und Verpflichtung gegenüber dem Objekt des Glaubens. Der Theologe Friedrich Schleiermacher redete von Religion als "Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit" – meinte er da nicht eher den Glauben?

"Ich denke, dass es ganz wichtig ist, vor allen Dingen bei den schwierigen Jugendlichen, dass sie das auch zu hören bekommen, dass man an sie glaubt. Weil sie das in den früheren Jahren vielleicht gar nicht so mitbekommen haben, und dass sind wichtige Dinge, dass es dann auch vorangeht."

Rafik Rolf Amrouche ist selbständiger Malermeister. Seit fast 20 Jahren ist er in der Malerinnung Berlin für die Belange der Lehrlinge zuständig. Offiziell spricht man natürlich von Auszubildenden und Ausbildern. Aber jenseits dessen geht es um ein Verhältnis voll Vertrauen, auch Ungleichheit, und: von elementarer Wichtigkeit fürs Leben.

In meiner Berufsausbildung, es war so, dass ich das erste Ausbildungsjahr hatte ich bei anderen Firma gelernt, und dann gabs da auch mächtig Ärger, ich bin vom Meister geschlagen worden, dann habe ich aufgehört, und mein Berufsschullehrer, der auch einen eigenen Betrieb hatte, der ist zu mir nach Hause gekommen und hat mich gefragt, ob ich die Ausbildung nicht bei ihm weitermachen wolle, dass da so deutlich zu erkennen war, dass er an mich glaubt, dadurch, dass er gekommen ist und das auch so gesagt hat, gings weiter und gut weiter.

Von der Wiederkehr der Religion ist viel die Rede. Von der Wiederkehr des Glaubens nicht. Wenn vom Glauben die Rede ist, wird die Möglichkeit seines Gegenteils gleich mit einbezogen – so etwa, wenn die Wochenzeitung Die Zeit eine neue Rubrik mit dem Titel "Glauben und zweifeln" einrichtet. Glauben braucht persönlichen Kontakt, sagt Rafik Rolf Amrouche, der nicht nur Malermeister ist, sondern lange Zeit auch Mitglied im Orden der Salesianer Don Bosco war. Für den Orden hat er perspektivlose Jugendliche als Handwerker ausgebildet.

"Früher auch in den Zeiten, wo ich im Orden gewesen bin, Jugendliche ausgebildet habe, die schönsten religiösen Gespräche waren auf der Baustelle. Ich hab immer zu meinen Mitbrüdern gesagt, der Ausbilder hat viel mehr Möglichkeit, religiöse Dinge weiterzugeben wie ein Priester."

"Glaube ist eine Überzeugung, ist ein Verstehen, ein Beziehungsgeschehen, ich habe eine Beziehung mit Gott, ich versteh was von ihm, ich hab was erfahren von ihm "

Der Spiritualitätsbeauftragte Wolfgang Bittner.

"Vielleicht kann ich es in einem Beispiel sagen: wenn zwei Menschen verheiratet sind oder eine Paarbeziehung haben, dann ist das so ungefähr wie Glaube, dann vertraut man sich gegenseitig einander an. Aber wir wissen aus unseren menschlichen Beziehungen: solche Beziehungen können müde werden, können unattraktiv werden oder ich würde sagen, ungepflegt werden. Und so ist das Gott gegenüber auch. Gibt gepflegte Beziehungen mit Gott und es gibt ungepflegte Beziehungen. Und Spiritualität heißt, dass man sich die Mühe macht, die Beziehung noch mal anzusehen und sich auf die Suche macht, wie kann ich diese Beziehung jetzt pflegen, damit das lebendiger wird, damit das attraktiv wird, damit man sich im menschlichen Beispiel so richtig neu verlieben kann in den anderen."

Wenn Glaube eine Gruppe erfüllt, wenn er gar in Form eines ausformulierten religiösen Bekenntnisses auftritt – dann gibt er vielen Anlass zur Sorge. So eindeutig will es der spirituell offene Erfahrungssucher der Gegenwart dann doch meist nicht haben. Schnell ist das Etikett des Fundamentalismus zur Hand, wo es vielleicht nur um einen Bestandteil von Religion geht. Die genaue Bestimmung dessen, wovon man eigentlich redet, kann dann zur friedensstiftenden Maßnahme werden. Denn das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis aus zehn Jahren Debatte über die "Wiederkehr der Religion": Religion gibt es nur konkret. Wer sich mit Religion auseinandersetzt, muss sich mit Menschen auseinandersetzen, die sich diese Religion zu eigen machen, nach Transzendenz suchen. Nichts ist mehr selbstverständlich, Kirche ist nicht mehr gleich Religion, Kirchenmitglieder nicht automatisch Gläubige, die Zahl der spirituellen Wege nahezu unendlich. Die Vielfalt der Stimmen zu unterscheiden und vielleicht sogar zu verstehen, ist eine Aufgabe, deren Bedeutung wachsen wird.