Auf der Suche nach dem Bürger

Rezensiert von Michael Stürmer · 09.12.2005
Drei Herren suchten dieser Tage nach dem Bürgertum und fanden nur noch Reste. Aus dem Gespräch entstand ein Buch. Der langjährige FAZ-Herausgeber und Speer-Biograph Joachim C. Fest, der Verleger Wolf Jobst Siedler und der Moderator Frank A. Meyer fragten sich, was das Bürgertum heute ausmacht und wo es sich findet.
Drei Herren suchten dieser Tage nach dem Bürgertum und fanden nur noch Reste. Aus dem Gespräch entstand ein Buch. Alle drei sind schon auf den ersten Blick als Bürger zu erkennen: Frank A. Meyer, der die Fragen stellt, ist Schweizer aus der Uhrenlandschaft von Biel, altes Burgund, zweisprachig, offen zu Deutschen und Welschen und im übrigen die graue Eminenz im Hause Ringier, dem schweizerischen Springer, ein Leitartikler, dessen Fernsehinterviews Legende sind.

Der zweite im gedruckten Gespräch ist Wolf Jobst Siedler, der Berliner Verleger, von Springers Propyläen bis heute im eigenen Siedler-Verlag, ein großer Essayist auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Verfasser zweier Bände Memoiren, der im Krieg hart an der Todesstrafe wegen Sympathie mit untergetauchten Juden vorbeischrammte und seitdem eine gewisse Souveränität im Umgang mit Menschen zeigt.

Endlich und vor allem Joachim C. Fest, der frühere FAZ-Mitherausgeber, Hitler-Biograph und Speer-Biograph, der einer republikanischen Familie von Antinazis entstammt und die Nationalsozialisten für Gewalttäter und Kriegsverbrecher hält - aber eben auch für eine totalitäre Abart von Sozialisten.

Bürgertum, bürgerliche Menschen. Wie sie denn nun, so leitete Frank A. Meyer mit akademischer Abstraktion das Gespräch ein, den bürgerlichen Menschen definierten?
Siedlers Antwort:

"Dass der sich auf einen bestimmten Kanon bürgerlicher Werte bezieht. Ohne diese Werte kann man eigentlich nicht von Bürgertum sprechen. Und das gehört ja eben zum Fluch des Dritten Reiches, dass es eine ganze Gesellschaft zum Verschwinden gebracht hat."

Fest definiert den Bürger nach dem, was er, bewusst altmodisch, Tugenden nennt:

"Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Gesetzestreue und was man geradezu als den Inbegriff bürgerlicher Tugenden bezeichnet - Staatsernst, also die Auffassung, dass es zu den Verrichtungen eines ordentlichen Lebens gehöre, ein guter Staatsbürger zu sein."

Bürger also. Was das bedeutet, ist zwischen Schweizern und Deutschen durch historische Erfahrung ernsthaft geschieden. Für die Schweizer erledigte Napoleon um 1800 die meiste Arbeit, das Ancien Regime zu überwinden. Seitdem gab es in der Schweiz nicht die Extreme, die in Deutschland anno 1848 beizeiten alles ruinierten: Keine Kommunisten wie Marx und Engels auf der Linken, keine konservative Gegenrevolution wie Reichskanzler Otto von Bismarck auf der Rechten. Dazu kam, dass die europäischen Mächte die Schweiz in Ruhe ließen, Großbritannien und Russland aber gegen die bürgerliche Revolution der Deutschen aufmarschierten.

Seitdem hat das deutsche Bürgertum in zwei Weltkriegen Seele und Substanz, Verdienst und Vermögen verloren, eine große Buddenbrook-Geschichte, nur blutiger. In der Schweiz dagegen ist heute alles, fast alles Bürgertum, von Seldwyla bis zur Zürcher Goldküste. In Deutschland ist Bürgertum eine Idee, Selbstzweifel wegen politischen Versagens und eine Erinnerung an bessere Zeiten. Aber parteifähig ist Bürgertum nicht mehr, allenfalls bei den Liberalen und, in der romantischen Variante, bei den Grünen.

"Bürger sein ist auch Arbeit."

- so sagt - mahnend - der Moderator aus der Schweiz. Joachim Fest führt den Gedanken fort:

"Vielleicht gibt es deshalb keinen Bürger mehr, weil das dem Einzelnen zuviel abverlangt. Und es bezeichnet geradezu unsere Zeit, dass sich niemand mehr etwas abverlangt."

Aber Meyer, der Schweizer, will das nicht gelten lassen:

"Ich behaupte, es gibt den Bürger wieder. Und es wird ihn auch in Zukunft geben."

Aber auch Meyer hält die Demokratie, wenn ihr die Bürger den Rücken zukehren oder einfach weggehen, für gefährdet. Er beklagt die Ökonomisierung aller Politik und die daraus entstehende Ohnmacht der Bürger. Doch Joachim Fests Skepsis geht tiefer:

"Die herausragende Eigenschaft eines Politikers hat jahrelang vor allem darin bestanden, Nöte oder Notgruppen zu erfinden und seine Heerhaufen dafür zu sammeln. Das war der Beginn der Ökonomisierung der Politik, lange vor der Globalisierung. Jetzt ist die Wirklichkeit dabei, die Politiker beim Wort zu nehmen. Jetzt gibt es wirkliche Nöte. Die Epoche auf der Insel der Seligen ist vorbei. Und schon geraten wir in große Schwierigkeiten."

War das Bürgertum doch nur eine Episode? Oder bedeutet heute, Bürger zu sein, nur anderes als vor 70, vor 100 Jahren? Wer in die Konzertsäle geht, in die großen internationalen Kunstausstellungen, der erlebt Bürgertum in Habitus und Lebensform.

Die wilden 68er Zeiten, als die Söhne und Töchter des Bürgertums gegen ihre Eltern rebellierten, sind vorbei. Die Wortführer nähern sich der Pensionsgrenze, gehören zur Toskanafraktion und reden sich beim Barolo ein, sie hätten damals am Teppich der Weltgeschichte mitgewebt.

Das Nationale am Bürgertum ist vorbei, man schickt die Kinder nach England und Amerika, noch immer gilt Konsumverzicht als Tugend, ein anspruchsvoller Bücherschrank als selbstverständlich.

Der elegische Grundton dieses intelligenten Gesprächs in Buchform ist eine Sache, die kleinen Renaissancen des Bürgertums eine andere. Partei- und politikfähig allerdings ist das Bürgertum schon lange nicht mehr, allenfalls in Gestalt der Liberalen, deren Lebenszähigkeit, fast unabhängig von Personen und Projekten, immer wieder für positive Überraschungen gut ist. Bürgertum gibt es in Deutschland, solange es umstritten bleibt.


Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler im Gespräch mit Frank A. Meyer:
Der lange Abschied vom Bürgertum

Wjs-Verlag, Berlin 2005
"Der lange Abschied vom Bürgertum"; Cover
"Der lange Abschied vom Bürgertum"; Cover© wjs-verlag