Auf den Spuren eines Klassikers

Von Bernhard Doppler · 10.02.2013
Bertolt Brecht war nicht nur Dichter. Schon früh fühlte er sich berufen, die Grenzen zwischen den Künsten zu überschreiten. Das Brecht-Festival in seiner Heimatstadt Augsburg spürt diesem Anspruch nach - und zeigte auch 2013 wieder einige bisher noch unbekannte Seiten des Klassikers.
"Ich erinnere mich", distanzierte sich Bertolt Brecht später, "wenn auch nicht mehr deutlich, an das Schreiben des Stückes 'Im Dickicht der Städte'." Die Wildheit, der Boxsport, die pure Lust am Kampf hätten ihn damals interessiert, er hätte das Stück im Gehen, vorbei am väterlichen Haus in Augsburg geschrieben, Wortmischungen zusammenstellend wie scharfe Getränke. "Später waren dann meine Stücke einfacher."

Ein Kampf um des Kampfes willen, ein Kampf ohne Ursache. Der Holzhändler Shlink gegen den Bibliotheksangestellten Garga, sie zerstören sich gegenseitig. In der Inszenierung der israelischen Regisseurin Ofira Henig in der Augsburger Brechtbühne bleibt Brechts Konstruktion rätselhaft, kein leidenschaftlicher Kampf, wie es Brecht vielleicht vorschwebte, sondern ein nüchternes, etwas langweilendes Lehrstück. "Ich muss dichten" heißt das Motto des Brecht-Festivals 2013. Und man beginnt ganz am Anfang, mit der "Bibel", dem ersten Werk der Brecht-Gesamtausgabe. Es wurde bisher noch nie aufgeführt. Joachim A. Lang, Leiter des Brechtfestivals:

"Die Bibel ist sein erstes kleines Stück, das er geschrieben hat in einer Schülerzeitung, da ist schon sehr viel angelegt, was später ein Thema bei ihm ist - 'Der Einzelne und die Gemeinschaft' - aber überhaupt zeigt die Schülerzeitung, die Ende des vergangenen Jahrhunderts dann vollständig entdeckt, vielen was den späteren Brecht auszeichnet, die Arbeit im Freundeskreis, auch die Laxheit in Fragen geistigen Eigentums. Es ist nachgewiesen, dass einige Texte von Brecht stammen, die er anderen zugeschrieben hat, einfach um mehr Autoren, eine größere Vielfalt zu erwecken. Das sieht man schon vieles. Auch dieses ungeheure Selbstbewusstsein: 'Ich möchte Dichter werden! Ich werde Klassiker, ich beobachte das, dass ich anfange ein Klassiker zu werden.' Das ist in Augsburg spürbar: Dieses Selbstbewusstsein, ein ganz Großer zu werden."

"Die Bibel" wurde in der Barfüßerkirche, also jener Kirche, in der Brecht getauft und konfirmiert wurde, uraufgeführt. Aber ist es überhaupt ein religiöses Stück oder am Ende gar eines gegen die Religion? Katholische Belagerer verlangen von der Stadt, dem Protestantismus abzuschwören und darüber hinaus ein Mädchen dem Feldherrn zu opfern. Eine Familienaufstellung: Vater, Großvater, Bruder streiten, ob sich ihr Mädchen, um dadurch Tausende zu retten, opfern soll. Das Mädchen weigert sich. Ein Thema, das spätere Lehrstücken vorwegnimmt, den "Jasager und Neinsager" zum Beispiel. Johanna Schall, Enkelin von Bertolt Brecht, inszenierte die Uraufführung und verwahrte sich dabei gegen zu weitgehende Interpretationen.

"Ich finde das schädigt das Ding. Das ist der Entwurf eines jungen Mannes, der in einer mehrheitlich katholischen Stadt aufgewachsen ist in einer evangelischen Familie, der wahnsinnig gern die Bibel gelesen hat, der überhaupt wahnsinnig viel gelesen hat und der geübt hat, zu schreiben. Und das ist ein Schreibversuch."

Und doch, so scheint es, ist der kurze Text des Fünfzehnjährigen mehr! Verblüffend prägnant sind unauflösbare beunruhigende Gegensätze herausgearbeitet. Johanna Schall traut dagegen dem Jugendwerk weniger zu, fügt eine späte Kalendergeschichte an und lässt in der Barfüßerkirche den Atheistenchoral "Lasst euch nicht verführen" singen.

"Was ich immer spannend an ihm fand, der war ja nicht ständig seiner Meinung. Der hat seine Meinung geändert, Dinge erlebt, Dinge begriffen, eine Meinung sich gebildet, manchmal hat er die ein bisschen zu lange behalten auch oder vielleicht auch zu verbissen sie vertreten. Das ist eine Frage, weiß ich nicht, würde ich gerne mit ihm darüber reden, wenn er noch leben würde."

Der Höhepunkt freilich fand schon zu Beginn des Festivals statt. Eine "konzertante Aufführung" - so wurde sie genannt - von Bertolt Brechts erstem großen Bühnenstück "Baal" durch Thomas Thieme. Thieme, der Baal am Wiener Burgtheater vor zwanzig Jahren gespielt und ihn vor zehn Jahren in Weimar mit Ben Becker inszeniert hatte, spielt nun selbst alle Rollen, wobei er alle fünf Fassungen Brecht ausprobiert. Begleitet wird er dabei nur von seinem Sohn Arthur Thieme an der Bassgitarre. Doch auf der großen leeren Bühne werden die Szenen durchaus lebendig, beim Unternehmer Mech, im freien Feld, in der Branntweinschenke.

Baal – brutal und zart zugleich – anarchistisch, wütend, aber auch leise melancholisch. Baal – der Asoziale, der Vagabund, der Ästhet, versoffen, komisch und tragisch zugleich – und höchst konzentriert. Gerade durch den Verzicht auf alle äußerlichen theatralischen Mittel wurde eindrucksvoll eine höchst theatralische Figur sichtbar. Baal, aus Augsburg stammend, begleitete Brecht sein Leben lang.


Mehr Infos zum Festival im Web:

Brecht in Augsburg