Auch eine Art Kernspaltung

Von Maren Schibilsky · 11.12.2007
Seit mehr als 15 Jahren wird Deutschlands ältestes Kernkraftwerk im brandenburgischen Rheinsberg abgebaut. Nachdem alle Betriebssysteme um den Reaktor herum demontiert waren, sind jetzt die Fachleute der Energiewerke Nord beim Herzstück des Kernreaktors russischer Bauart angelangt.
Mit modernster Zerlegetechnik zerschneiden sie fernbedient den Reaktorschacht und Brennelementekorb in 900 Millimeter große Teile, verpacken und verladen sie in strahlensichere Behälter für das Zwischenlager Lubmin bei Greifswald. Jahrelang haben sie für diesen Kraftakt trainiert. Das Know-how ist bereits jetzt gefragt bei der Entsorgung von russischen Atom-U-Booten und der Stilllegung bulgarischer und slowakischer Kernkraftwerke.

Ein verregneter Herbsttag Ende Oktober. Der graue Betonquader des ältesten deutschen Kernkraftwerks ist nebelverhangen. Nur der rot weiß geringelte Schornstein ist sichtbar. Auf dem Verladebahnhof hat sich eine große Menschenmenge angesammelt.

Kernkraftwerksmitarbeiter, Strahlenschützer, Leute vom Wachschutz, Polizisten und jede Menge Journalisten stehen an den Gleisen.
Sie nehmen Abschied von einer besonderen Fracht, dem Herzstück des Kernkraftwerks Rheinsberg.
Der hochradioaktive Reaktordruckbehälter geht auf seine letzte Reise.

Strahlenschutzingenieur Hartmut Löschke misst die Radioaktivität in zwei Meter Abstand zum Waggon. Darauf liegt der ausgebaute Durckwasserreaktor WWR 70 russischer Bauart. Verpackt in eine 15 Zentimeter dicke blaue Stahlhülle. Als Abschirmung gegen die Strahlung.

"Der Grenzwert ist 100 Mikrosievert pro Stunde in zwei Meter Abstand. Wir haben jetzt hier 21 Mikrosievert pro Stunde gemessen. Damit können wir uns gut auf dem Schienenweg bewegen."

Ins fast 300 Kilometer entfernte Zwischenlager Nord bei Greifswald wird der elf Meter lange und 125 Tonnen schwere Koloss gebracht.
Es ist der größte Atomtransport auf der Schiene in der Geschichte der Bundesrepublik.

Langsam rollt der Zug im Verladebahnhof an. Kurz vorm Werkstor macht er noch mal Halt.

"Langsam. Und Stopp."
"So. Könnt Ihr so stehen lassen. Handbremse an. Ist okay."

Rund 25 Polizisten besteigen Waggons, die vor und hinter die ´heiße Fracht´ gekoppelt sind. Sie begleiten den gefährlichen Atomtransport und sorgen für seine Sicherheit.

Inmitten der Abschiedsgesellschaft steht Hartmut Gülow. Der Mittfünziger im dunklen Anzug erlebt einen bewegenden Moment.
Zu DDR-Zeiten hat er regelmäßig den Druckwasserreaktor mit Brennstoff beladen. Er lieferte Strom aus der Spaltung von Urankernen. Seit der Stilllegung des Werks 1991 baut Hartmut Gülow den Reaktorsaal mit ab. Der Höhepunkt war der Komplettausbau des Reaktordruckgefäßes.

"Froh, dass es so gut geklappt hat. Wir haben hier mit ganz engen Terminen gearbeitet, mit sehr, sehr viel Technik im Einsatz. Das hat alles funktioniert. Wir haben wenig Probleme gehabt. Es ist ein schönes Erfolgserlebnis, das hier auf dem Waggon zum Transport bereit liegen zu sehen."

Jahrelang hat der Demontageleiter auf diesen Tag hingearbeitet. Zum ersten Mal in Europa haben er und seine Leute von den Energiewerken Nord einen 24 Jahre gelaufenen Volllastreaktor im Ganzen ausgebaut, der auf der Schiene in ein atomares Zwischenlager rollt. Diese neue Abbaustrategie hat Projektleiter Siegfried Krause mit entwickelt.
Auch er steht auf den Verladebahnhof.

"Der wesentlichste Vorteil ist, dass das Zerschneiden des Druckbehälters entfällt und dass wir einen einzigen Transport nach Greifswald durchführen und nicht, wie es ursprünglich angedacht war, eine Vielzahl von Transporten, bei dem jeweils eine Teilmenge transportiert wird."

Siegfried Krause hat gerechnet: Dieser einmalige atomare Schwerlasttransport ersetzt ungefähr hundert kleine. Außerdem fällt kein zusätzlicher radioaktiver Abfall an, der ansonsten beim Zersägen eines so großen Druckbehälters entsteht.
Vor drei Jahren hat sich die Unternehmensleitung der Energiewerke Nord für diese in Europa neue Abbaustrategie entschieden. Auch deshalb, weil sie viel Zeit und Geld spart. Rund 420 Millionen Euro Steuergelder kostet der Abbau des Rheinsberger Kernkraftwerks bis 2011. Durch den Komplettausbau des Reaktordruckgefäßes hat das Werk eineinhalb Jahre aufwändige Zerlegearbeit gespart plus Personalkosten, Technik und Abschirmung gegen die Strahlung.

Bernd Baran vom Wachschutz öffnet das Werkstor. Wie immer, wenn radioaktive Transporte Rheinsberg verlassen. Der Zug verschwindet im Nebel.

"Das ist ein Stück Geschichte, was wir hier schreiben. Hängt die Arbeit dran, so müssen wir das auch sehen."

Rund 170 Menschen bauen das ehemalige industrielle Versuchskraftwerk der DDR ab. Neben der Stromproduktion wurden hier Kernenergietechniker ausgebildet und Versuche zur Atomenergienutzung gemacht.
Auch jetzt ist Rheinsberg wieder ein Versuchskraftwerk
Pionierarbeit. Jahrelang haben Hartmut Gülow und sein Team dafür trainiert. Neueste Zerlegetechnik bedienen gelernt. Jeder Arbeitsschritt wurde geprobt. Mehrfach. Kontrolliert von der Strahlenschutzbehörde. Überwacht vom TÜV. Keine Fehler dürfen passieren, wenn hoch radioaktive Bauteile zerlegt werden.

"Unsere ganzen Erfahrungen werden auch gesichert hier. Es gibt technische Berichte. Es gibt Videoaufzeichnungen von allen Bauteilen, wo man es später doch mal anwenden kann."

Die größte Herausforderung war der Komplettausbau des Reaktordruckgefäßes. Wie ein hohler Backenzahn hing er zuletzt in seiner Verankerung. Seine Brennstäbe und Einbauten waren bereits raus. Mit einem ferngesteuerten Kran wurde der 120 Tonnen schwere Koloss an nur einem Tag gezogen und auf den Waggon im Verladebahnhof gebracht.
Ein Know-how, mit dem man den Abbau von Kernreaktoren auch anderswo beschleunigen kann – meint Michael Schönherr.

"Die EWN ist beteiligt in Jülich beim Rückbau der Kernkraftwerksanlage. Dort ist die Situation genauso, dass der Druckbehälter im Ganzen gezogen wird und wird dann an einem Zwischenlagerstandort in Kraftwerksnähe gelagert."

Auch die Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstäbe in Karlsruhe wird so abgebaut.

Der Rheinsberger Reaktor steht vor den Toren des Zwischenlagers Nord bei Greifswald. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von
30 Stundenkilometern ist der Schwerlasttransport nach zwölf Stunden Fahrt hier angekommen. Günter Hillebrecht überwacht die Verladung des Reaktordruckgefäßes für das Zwischenlager.

"Das Reaktordruckgefäß von Rheinsberg wird auf einer Schwerlastplatte in die Halle sieben hereingefahren und wird dort auf seinen Lagerplatz abgesetzt und wir die nächsten Jahre dort stehen, mindestens 40 bis 70 Jahre."

Vierzig bis siebzig Jahre. Zwei bis drei Generationen dauert es, bis die hohe Radioaktivität des Rheinsberger Reaktors abgeklungen ist. Soweit, dass der Stahlkoloss ohne Strahlenschutz zerlegt und das Material verschrottet werden kann.
Das gleiche passiert mit den fünf Kernreaktoren des Atomkraftwerks Greifswald, das ebenfalls abgebaut wird.

Am Ufer des Greifswalder Boddens befindet sich der Hauptsitz der Energiewerke Nord. Hier koordiniert Jürgen Ramthun die Auslandsgeschäfte des Unternehmens. Das Rheinsberger Know-how ist zum Exportschlager geworden.
Vor allem in Osteuropa, wo viele veraltete Kernreaktoren auf ihren Abriss warten. Im Baltikum, in Ungarn und Bulgarien, in Tschechien und der Slowakei. Hier interessiert man sich für die Abbauphilosophie der Energiewerke Nord. Hier werden Kooperationsverhandlungen geführt.
In der russischen Saidabucht bei Murmansk ist es bereits zu einem großen Projekt gekommen. Einhundertachtzig Atom-U-Boote werden hier gemeinsam von deutschen und russischen Fachleuten außer Betrieb genommen.

"Die Philosophie sieht so aus, dass die russischen Atom-U-Boote soweit zerkleinert werden, dass die Reaktorsektion als Sektion isoliert in das Zwischenlager, was wir dort bauen, abgestellt wird."

Vierzehn U-Bootreaktoren haben die Experten bereits ausgebaut. Ähnlich wie die Reaktoren im Zwischenlager Nord bei Greifswald sollen sie in Murmansk über einen langen Zeitraum abklingen, bevor sie zerlegt werden.

"Die Zusammenarbeit in der Region, mit den Firmen klappt hervorragend. Man darf nicht vergessen, das ist ein deutsch-russisches Projekt. Das ganze wird finanziert über die deutsche Seite im Rahmen der Verpflichtung der G8-Staaten, insofern sind wir durch die Bundesregierung vertreten, und gebeten worden, die Projektleitung zu übernehmen."

Ein Millionen-Projekt, das vor allem Sicherheit in die nordrussische Region bringt. Aufgrund von Geldmangel lagen die ausgemusterten Atom-U-Boote lange Zeit unkontrolliert im Wasser – berichtet Jürgen Ramthun. Inzwischen finden die Arbeiten in der Saida-Bucht international Beachtung.

"Wir haben das Glück, dass wir in der Projektleitung ausschließlich Ingenieure dort sitzen haben, die in Russland studiert haben, die also nicht nur russisch sprechen, sondern auch die Mentalität verstehen. Wir hatten auch das Glück, dass wir die russischen Verantwortlichen hier vor Ort hatten, ihnen gezeigt haben, wie wir den Abbau vornehmen würden, wenn wir in Verantwortung kommen, haben ihnen unser Zwischenlager gezeigt, und dieses Konzept, hat schließlich die Russen überzeugt."

Reaktorsaal Rheinsberg. Obwohl das Herzstück des Kraftwerks weg ist, bleibt bis 2011 noch viel zu tun. Erst dann soll alles radioaktive Material aus Rheinsberg heraus sein und das Werk aus dem Atomgesetz entlassen werden
Rund 30.000 Tonnen Anlagentechnik und Bauschutt, 4000 Tonnen radioaktiver Müll fielen bisher beim Abbau an.
Bis Jahresende sind alle hoch radioaktiven Bauteile im Reaktorsaal zerlegt – versichert Demonageleiter Hartmut Gülow.

"Wenn dann die Zerlegung vorbei ist, muss auch diese Zerlegestation, die wir errichtet haben mit ihren ganzen High-Tech-Anlagen muss abgebaut werden. Diese Säge, Plasmabrenner und Filternanlage etc. müssen dekontaminiert werden. Es kann ja sein, dass wir noch ein Anwendungsfall haben, dass die dort wieder angepasst eingesetzt werden kann. Das ist ja auch ein Vermögen, was man da hat."
Eine schwierige Aufgabe der nächsten Jahre wird der Abriss des atomaren Lagers auf dem Rheinsberger Werksgelände sein. Zu DDR-Zeiten war es als Endlager geplant. In nur acht Meter Tiefe wurden ohne jegliche Dokumentation radioaktive Abfälle eingelagert. Flüssige und feste. Das Sortieren, neu Deklarieren und Messen ihrer Radioaktivität hat die Energiewerke Nord Jahre gekostet – meint Werksleiter Michael Schönherr.

"Es ist auch nicht zu verbergen, dass wir Undichtigkeiten in den Behältern, in den Gebäuden hatten, so dass wir Bodenkontaminationen, sogar Kontaminationen im Grundwasser in geringer Menge vorliegen haben. Sie sind passiert."

Das ist besonders brisant, da das Rheinsberger Kernkraftwerk 1966 an den wertvollsten Klarwassersee Norddeutschlands gebaut wurde. Den Stechlin. Die Ausbreitung des Grundwassers geht in Richtung dieses Sees.

"Die Kontamination ist aber so gering, wenn sich das dann in den Stechlinsee ergießt, haben sie eine Verdünnung, so dass sie diese Aktivität gar nicht mehr nachweisen können. Deswegen besteht auch keine Gefährdung des Gewässers und die Touristen können in Ruhe in den nächsten Jahren ohne Sorge baden gehen."

Heute ist der Stechlinsee in einem Naturpark geschützt. Sein Leiter Mario Schrumpf war von der Offenheit des Abbauunternehmens überrascht. Da war er aus DDR-Tagen anderes gewohnt.

"Es wird hier regelmäßig eingeladen. Es wird über den Stand berichtet. Es wir gezeigt, was getan wird. So wünscht man sich das eigentlich, dass man mit einem so sehr sensiblen Thema auch sehr offensiv umgeht."

Mit dem Abtransport des Reaktors aus Rheinsberg hat eine Debatte um die Nachnutzung des Geländes begonnen. Wenn das Werk aus dem Atomgesetz entlassen ist, werden die Gebäudehüllen an das Land Brandenburg übergehen. Abriss oder Nachnutzung ? Keine einfache Entscheidung – meint Naturparkleiter Mario Schrumpf.

"Ich mache kein Hehl draus. Mein Ziel ist die Grüne Wiese. Aber, wenn es gelingt, hier eine Nachnutzung hin zu kriegen, die die momentan 170 bestehenden Arbeitsplätze hier erhält, dann wäre das wirklich eine sehr gute Sache für die Regionalentwicklung, für die Region."

Die Energiewerke Nord haben eine Machbarkeitsstudie zur Nachnutzung an der Fachhochschule Wildau in Auftrag gegeben. Bis Jahresende soll ein Ergebnis vorliegen. Rheinsbergs Bürgermeister Manfred Richter macht sich keine großen Hoffnungen.

"Träume kann man viele haben. Ich weiß auch, wie schwer das ist, eine Nachnutzung her zu kriegen. Es gibt ausreichend Gewerbeflächen um Berlin herum, um Potsdam herum. Man wünscht sich, was kann hier sein im Naturschutzgebiet? Dann träumt man von Forschung und Entwicklung. Aber ich bin Realist genug. Das wird schwer, weil solche Leute suchen die Nähe zu einer Hochschule, einer Universität, die siedeln sich in Potsdam oder um Berlin rum an. Die kriegt man nicht ohne weiteres hier raus."

Brandenburgs Umweltminister Dietmar Woidke möchte den Standort möglichst erhalten. Schließlich stand hier Deutschlands erstes Kernkraftwerk. Das denkmalgeschützte Verwaltungsgebäude mit seinen bunten Ölgemälden im Foyer ist ein wertvoller Zeitzeuge.
Die Ära der Atomenergienutzung ist in Brandenburg zwar vorbei. Daraus hat sich aber neues entwickelt.

"Klar ist,/ dass das Expertenwissen, was hier entstanden ist in diesen zwölf Jahren mittlerweile europaweit und weltweit gefragt ist. Dieses ist ein Pfund, mit dem die Region vielleicht in Zukunft wuchern kann."

Demontageleiter Hartmut Gülow kann sich eine Ausbildungs- und Forschungsstätte für Abbautechnologien vorstellen. Er ist stolz darauf, im Kernkraftwerk Rheinsberg mit dabei gewesen zu sein. Für ihn ist 2011 Schluss.

"Dann bin ich 45 Jahre im Beruf und 45 Jahre hier im Kernkraftwerk Rheinsberg. Für mich war das ein Arbeitsleben, wo sich der Kreis schließt. Ich habe hier angefangen als Lehrling und beendet das hier auch mit der Stilllegung des KKW Rheinsberg. Ich gehe mit dem Kraftwerk zusammen in Rente."