Atomwaffen - Nein, Danke!

Von Rolf Wiggershaus · 22.10.2008
Als in den 70er Jahren die Sowjetunion mit der Aufstellung von SS-20-Raketen begann, die auf Westeuropa zielten, löste sie damit zwei spektakuläre Vorgänge aus: den NATO-Dopppelbeschluss und die größte Friedensbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Helmut Schmidt:
"Jede Woche kommt eine neue SS-20-Rakete hinzu mit 3 Sprengköpfen. 50 im Jahr. 30 neue Backfire-Bomber im Jahr dazu. Weit mehr als 100 nukleare Sprengköpfe insgesamt. Die Vereinigten Staaten von Amerika und das Atlantische Bündnis wollen sich in dieser Lage die Möglichkeit schaffen, dem wachsenden Ungleichgewicht in diesem Bereich entgegenzuwirken."

Im Dezember 1979 warb Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag um Zustimmung zum gleichzeitig von der NATO verkündeten Doppelbeschluss. Er enthielt einen Rüstungs- und einen Verhandlungsteil. Sollte das Verhandlungsangebot nicht zu Rüstungskontrollvereinbarungen bei eurostrategischen Nuklearwaffen führen, würden die USA vier Jahre später entsprechend nachrüsten.

Schmidts Sorge angesichts der sowjetischen SS-20-Raketen war verständlich. Sie waren mehr als einfach ein moderner Ersatz für veraltete Vorgänger. Sie verschärften ein hartnäckiges Problem der transatlantischen Risikogemeinschaft NATO.

Anfangs hatte das Atomwaffenmonopol der USA die NATO-Strategie massiver nuklearer Vergeltung zu einer glaubwürdigen Abschreckung gemacht. Doch dann wurde auch die Sowjetunion zur Atommacht. Es wirkte nicht länger glaubhaft, dass die USA bei einer begrenzten militärischen Aggression des Warschauer Paktes gegen Westeuropa mit einer nuklearen Eskalationsstrategie reagieren würden, die sie selbst zum Ziel eines atomaren Gegenschlags machte.

Die neue Strategie der Flexible Response, der abgestuften Reaktion, machte dann die Androhung westlicher Reaktionsbereitschaft glaubwürdiger, verstärkte aber auch NATO-interne Befürchtungen, es könnte zu einer Entkopplung westeuropäischer und amerikanischer Interessen kommen.

Auf dem Gebiet interkontinentaler strategischer Waffensysteme verständigten sich die beiden Supermächte in den 70er Jahren in den SALT-Verhandlungen auf Rüstungskontrollmaßnahmen. Vor diesem Hintergrund weckten die neuen SS-20-Mittelstreckenraketen, die zu gezielten Zerstörungen in Westeuropa fähig waren, die Furcht vor einer Entwicklung, die einen auf Europa begrenzten Atomkrieg der Supermächte führbar und denkbar machte. War in dieser Situation der NATO-Doppelbeschluss eine gute Lösung?

Erhard Eppler:
"Das kann doch nicht ewig so weitergehen, dass jeder mit immer größerer Beschleunigung aufrüstet, um endlich jenes Gleichgewicht zu finden, von dem aus man dann irgendwann einmal abrüsten will."

Auf einer der großen Friedenskundgebungen, die auf den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 folgten, kritisierte der SPD-Politiker Erhard Eppler, dass der Rüstungsteil offenbar Vorrang vor dem Verhandlungsteil hatte. Es waren nicht zuletzt die öffentlichen Proteste, die bewirkten, dass schließlich im November 1981 in Genf tatsächlich Abrüstungsverhandlungen zwischen Washington und Moskau begannen. Kurz vor Ablauf der vier Jahre und dem Beginn der Aufstellung von amerikanischen Pershing II-Raketen und Cruise Missiles in der Bundesrepublik meinte Willy Brandt auf der Bonner Kundgebung der Friedensbewegung am 22. Oktober 1983 beschwörend:

Willy Brandt:
"Die Genfer Verhandlungen dürfen nicht ohne Erfolg bleiben, sonst würden die Völker Europas nach einem Wort der Friedensnobelpreisträgerin Alva Myrdal noch stärker zu Geiseln im nuklearen Pokerspiel der Supermächte werden."

Der 22. Oktober bildete mit Demonstrationen, Großkundgebungen und Menschenketten den Höhepunkt der Friedensbewegung. Stolz gab der Sprecher des Bundesverbandes Bürgerinitiativen und Umweltschutz, Jo Leinen, bekannt:

"300.000 Leute mit ansteigender Tendenz im Süden, 400.000 Menschen in Hamburg, 100.000 in Berlin und eine halbe Million in Bonn."

Doch die Genfer Verhandlungen blieben bis zu dem für die Nachrüstung angesetzten Termin ohne Erfolg. Auf die Stationierung, mit der der Westen im Dezember 1983 begann, reagierte Moskau mit dem Abbruch der Verhandlungen und der Aufstellung neuer atomarer Kurzstreckenraketen.

Erst nach Gorbatschows Machtantritt kam es 1987 zum Abkommen über eine doppelte Nulllösung. Dabei spielten ökonomischer und rüstungstechnologischer Realitätssinn eine wichtige Rolle. Den Boden dafür hatte unter anderem eine imposante Friedensbewegung mit einem Gespür für neue Bedrohungen und unverzichtbare Ziele bereitet.