Atomenergiepolitik nach Tschernobyl

Nur wenige Konsequenzen aus Reaktorunglück

Sie sehen ein Luftbild des AKW Philippsburg von April 2011.
Das AKW Philippsburg - Laufzeitende 31.12.2019 © picture-alliance / dpa / Uli Deck
Von Jürgen Döschner · 26.04.2016
Trotz Tschernobyl und Fukushima versuchen Atomkraftwerksbetreiber für alte Meiler längere Laufzeiten auszuhandeln. Hier lauere große Gefahr, so Jürgen Döschner in seinem Kommentar. Denn alte Meiler bedeuteten auch alte Sicherheit.
Es gibt Situationen – beim Versuch, diese zu beschreiben, versagen selbst die besten journalistischen Fähigkeiten und Hilfsmittel wie Foto, Film- oder Tonaufnahme. Als ich vor 20 Jahren zum ersten Mal in Tschernobyl war, als ich die Atomruine aus nächster Nähe sah, die verlassenen Häuser in Pripjat, die gesperrten Straßen, die toten Dörfer – man konnte sie nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen, und doch war die Gefahr allgegenwärtig. So wie das Leid derer, die einst hier gelebt haben. Zweimal habe ich das in Tschernobyl erlebt, zwei weitere Male in Fukushima. Artikel, Bücher, Filme, Studien – nichts von all dem hat so viel Eindruck hinterlassen wie meine Besuche in den unmittelbar betroffenen Regionen. In Tschernobyl und Fukushima wird körperlich spürbar, dass die Gefahren, die von der Atomkraft ausgehen, im Ernstfall zwar unsichtbar, aber keineswegs abstrakt sind.
Doch die meisten Menschen, auch die meisten Politiker, dürften bislang weder in Tschernobyl, noch in Fukushima gewesen sein. Vielleicht ist das eine der Erklärungen dafür, dass wir dreißig Jahre nach der verheerenden Atom-Katastrophe mitten in Europa mit über 180 kommerziellen Reaktoren in eben diesem Europa immer noch die größte Ansammlung von Atomkraftwerken weltweit haben. Selbst das angeblich so kritische und aufgeklärte Deutschland brauchte zwei solcher Nuklearkatastrophen, um sich endgültig zum Ausstieg aus dieser Hochrisikotechnologie durchzuringen. In manchen Ländern will man sogar neue Meiler bauen. Das dürfte sich jedoch von alleine erledigen, weil kaum noch Geldgeber bereit sind, solche Abenteuer zu finanzieren.

Störanfälligkeit wächst, Personal macht Fehler

Aber gerade weil sich in Europa keine Atomkraftwerke mehr bauen lassen, wollen die Betreiber die alten Meiler umso länger laufen lassen. Hier lauert die größte Gefahr. In den vergangenen 30 Jahren sind die 180 europäischen Atomreaktoren nicht jünger geworden. Der Stahl der Reaktorbehälter versprödet, die Störanfälligkeit wächst, das Personal macht immer häufiger Fehler. Fessenheim ist das bekannteste, aber längst nicht das einzige Beispiel. Selbst in den angeblich so perfekten deutschen AKW wurden Sicherheitsprotokolle gefälscht. Es ist genau diese Mischung aus alterndem Material, nachlassender "Sicherheitskultur" – im Volksmund auch "Schlamperei" genannt, und wachsendem ökonomischen Druck auf die AKW-Betreiber, die das Risiko eines großen Atomunfalls – auch in Europa – in den letzten 30 Jahren nicht kleiner, sondern sogar größer hat werden lassen. Wenn dann auch noch Regierungen, Betreiber und Atomaufsicht wie im Fall Fessenheim, Doel und Tihange – akute Risiken herunterspielen, dann ist größte Sorge angebracht.
Die Konsequenz? In einer EU, die zwar den Krümmungsgrad von Gurken, nicht aber die Sicherheitsstandards von Atomkraftwerken regelt, kann die Antwort – vorerst - nur eine nationale sein. Aber auch die kann über die Grenzen hinweg wirken. Zum Beispiel, wenn Deutschland aus dem Euratom-Vertrag aussteigen und die Herstellung sowie den Export von Brennelementen verbieten würde. Ein möglicher, angemessener und keineswegs überstürzter Schritt - 30 Jahre nach Tschernobyl.
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